Frankreich: Das Ende des „Dschungels“

Flüchtlinge und Migranten verlassen das wilde Lager in Calais. Die französischen Behörden weisen sie in eines von 450 Aufnahmezentren im Land zu.
Flüchtlinge und Migranten verlassen das wilde Lager in Calais. Die französischen Behörden weisen sie in eines von 450 Aufnahmezentren im Land zu. (c) REUTERS (PASCAL ROSSIGNOL)
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Am Montagmorgen hat die Räumung des riesigen Flüchtlingslagers in Calais begonnen. Bisher verlief die Aktion ruhig. Im Zentralmassiv brannte ein Flüchtlingsheim.

Calais/Paris. Es war noch finstere Nacht, als sich in den frühesten Morgenstunden am Montag vor dem vereinbarten Treffpunkt die ersten Migranten mit ihren Habseligkeiten einfanden. Bald bildete sich vor den Augen der wachsamen Polizisten und der auf Distanz gehaltenen Journalisten eine Schlange. Diese Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Sudan und Somalia haben meist eine lange Reise hinter sich. Sie sind das Warten hier im nordfranzösischen Calais gewohnt. Die meisten von ihnen haben seit Wochen vergeblich versucht, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen. Nun haben ihnen die französischen Behörden einen Platz in einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge irgendwo in Frankreich versprochen, wo sie ein Asylgesuch einreichen könnten.

Minutiöse Vorbereitung

Viele der am Wochenende noch etwa 6000 bis 8000 Verbliebenen im wilden Lager meinen, vielleicht sei das doch die bessere Lösung, als weiter unter den sehr prekären Verhältnissen im Lager auf eine hypothetische Chance einer Überfahrt zu hoffen? Die Hilfswerke haben in den vergangenen Tagen die Flüchtlinge und Migranten informiert, dass die Tage des „Dschungels von Calais“ gezählt seien. Christian Salomé, der Vorsitzende der Flüchtlingshilfe Auberge des migrants, schätzt, rund 5000 Migranten und Flüchtlinge seien bereit wegzufahren. Rund 2000 aber lehnten die Räumung ab und wollen über den Kanal nach Großbritannien.

Beim Besteigen der Busse stellten sich die meisten Abreisenden dennoch die bange Frage, was sie bei ihrer Ankunft am Abend erwartet. Und wie werden die Bewohner in den Ortschaften reagieren, wo die Flüchtlingsheime CAO (Centres d'accueil et d'orientation) stehen? Im Dorf Loubeyrat im Zentralmassiv haben Unbekannte in der Nacht im CAO einen Brand gelegt. Nur der rasche Feuerwehreinsatz verhinderte das Ausbrennen des Heimes. Es war nicht die erste Brandstiftung in einem CAO.

Trotz einigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Migranten in der Nacht auf den Montag begann die eigentliche Räumungsaktion eher ruhig und nach Plan. Alles war in den Wochen zuvor minuziös vorbereitet worden. Die Freiwilligen müssen sich vor einem Transitlager einfinden, das unweit des Camps in einem riesigen Hangar eingerichtet worden ist. Dort werden Familien, Einzelpersonen oder Minderjährige getrennt registriert – mit der Zusicherung, dass alle Angaben zu Herkunft und Identität nicht für eine spätere Ausweisung verwendet würden. In den insgesamt 450 Aufnahmezentren gibt es genug Plätze für alle, wobei jeder zwischen zwei Vorschlägen wählen soll und danach zwei Armbänder mit den entsprechenden Farben erhält.

Die besonders gefährdeten Minderjährigen – schätzungsweise 1200 – werden von den anderen getrennt. Sie dürfen vorerst in Notunterkünften neben dem „Dschungel“ bleiben. Fast die Hälfte sagt, sie hätten Verwandte jenseits des Kanal, die sie aufnehmen würden. Vertreter des britischen Home office prüfen die Angaben. Bis zum Wochenende konnten rund 200 Jugendliche aus Calais legal nach Großbritannien reisen.

Sitze mit Plastik

Bereits eine halbe Stunde nach dem Beginn der Räumung fuhr der erste Bus mit rund 50 Passagieren in Richtung Burgund ab. Die Sitze waren mit Plastikhüllen bedeckt. In jedem Bus sitzen zwei Polizisten, und auch auf den Rastplätzen, wo Pausen vorgesehen sind, sorgt eine Überwachung dafür, dass unterwegs niemand verloren geht.

Ob die Migranten ein Asylgesuch ausfüllen werden, bleibt offen. Damit würden sie eine Weiterreise nach Großbritannien aufgeben. Und: 2015 gingen in Frankreich rund 80.000 Anträge ein, von denen aber weniger als ein Viertel bewilligt wurden.

Der „Dschungel“, der jeglichen humanitären Standards spottet, soll im Verlauf dieser Woche geschlossen werden. Für die Behörden handelt es sich angesichts der menschenunwürdigen Lebensbedingungen um eine „humanitäre Evakuierung“. Mit einem Aufgebot von mehr als 3300 Polizisten und Gendarmen lässt Paris an seiner Entschlossenheit, den „Dschungel“ notfalls mit Gewalt zu räumen, keinerlei Zweifel aufkommen. Die Bulldozer stehen schon bereit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2016)

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