Das deutsche Haus in der Türkei

Die türkische Familie wohnte lange Jahre in Recklinghausen im Ruhrgebiet, ihre Garage an der Schwarzmeerküste ist ein Zeugnis davon.
Die türkische Familie wohnte lange Jahre in Recklinghausen im Ruhrgebiet, ihre Garage an der Schwarzmeerküste ist ein Zeugnis davon.(c) Stefanie Bürkle
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Ziergarten, Kamin und Tiefgarage: Wenn ehemalige türkische Gastarbeiter in der alten Heimat ein Domizil errichten, dann nehmen sie die deutsche Architektur mit.

Das Haus von Cemal Keskin fällt auf. Es ist groß und mehrstöckig, umgeben von einer Mauer, die Holzterrasse steht auf Betonsockeln, der Balkon im ersten Stock ist verglast. Keskins Domizil hat eine Tiefgarage und ein Walmdach, das in der nordtürkischen Schwarzmeerregion absolut untypisch ist. Die Fenster sind aus Doppelglas und die Dämmung dicker als hier üblich. Die Bauarbeiten hat Keskin, ein ehemaliger Gastarbeiter, über einen längeren Zeitraum aufmerksam begleitet, ist dafür immer wieder von Deutschland nach Osmancık gereist, wo das außergewöhnliche Wohnhaus steht. Es ist deutsch inspiriert, allein das riesige Garagentor ließ er extra nach Osmancık importieren.

Die Jahrzehnte im Ruhrgebiet haben Keskins Traum und Verwirklichung vom Eigenheim in der alten Heimat unwillkürlich geprägt.

Migrantische Rückkehrer nehmen Räume und Bilder, kulturelle Praktiken und Lebensweisen mit, das Haus von Keskin ist nur ein Beispiel dafür. Aufmerksame Beobachter, die durch die türkische Landschaft fahren, können etliche solche Beispiele sehen. Satteldach, Veranda, Garage, Kreuzdach, Kamin, ausgebauter Dachboden, Hobbyraum und Naturmaterialien – die Raumerfahrungen der Emigration sind bei der Rückkehr mitgenommen und adaptiert worden, wie die deutsche Künstlerin Stefanie Bürkle in ihrem reich illustrierten Kunst- und Forschungsband „Migration von Räumen“ beschreibt. Denn über die Jahre ist man irgendwie deutsch geworden, der Ziergarten und die Loggia sind nur ein Ausdruck davon. „Bei den meisten war es ganz klar“, erzählt Bürkle, „sie hatten bestimmte Ansprüche, etwa große Fenster, die es vor 20 Jahren in der Türkei nicht gab. Und auch Möbel wurden zurückgebracht.“

Vier Jahre lang ist Bürkle mit einem interdisziplinären Team durch mehrere türkische Provinzen gefahren und hat über 130 Häuser nicht nur architektonisch untersucht: „Wir haben mit dem künstlerischen Blick diese Häuser gesucht.“ Ein Kriterium war, dass die Gebäude nicht von Architekten gestaltet wurden, sondern von den Hausbesitzern selbst, die ihre Migrationserfahrung gewissermaßen ungefiltert in die Häuser projiziert haben.

Wie das Ehepaar Yazar. Vier Jahrzehnte lang hat die Familie in Hamburg gearbeitet, in den Urlauben haben sie ihre Zeit in ihr Einfamilienhaus im anatolischen Kayseri investiert, es um- und ausgebaut. Kacheln und Baumaterialien aus den jeweiligen Dekaden in Deutschland tauchen in den verschiedenen Zimmern auf, wie Bürkle beschreibt. Blaue Fliesen, typisch für die 1960er-Jahre, sind in einem Bad zu finden, die ausziehbare Leiter, die zum Dachboden führt, der Ofen, die Fenster, Küchengeräte und die ausgestopften Tiere stammen ebenfalls aus Deutschland. Eine extra angebaute Satellitenschüssel empfängt deutsche Sender, in der Garage steht freilich ein Volkswagen.

„In dem Haus habe ich mich gefühlt wie in meiner Kindheit“, erzählt Bürkle, „Schrankwand, Fototapete, alles Sachen, die es in Deutschland nicht mehr gibt, aber dafür in der Türkei.“

Rückkehrillusion. Für viele ehemalige Gastarbeiter war es nicht zuletzt der Traum vom Eigenheim, der sie in die Fremde getrieben hat. In Europa hat man in bescheidenen Verhältnissen gewohnt, während es in den neuen Häusern an nichts fehlen sollte. Dauerhaft zurückgekehrt sind die wenigsten, wie die Migrationsgeschichte gezeigt hat; das Haus in der alten Heimat wird daher oft erst mit dem Antritt in den Ruhestand bezogen. Der Prozess der sozialen und kulturellen Beeinflussung hört damit aber nicht auf: Die Kinder und Enkelkinder sind noch in Europa, man pendelt zwischen den Kontinenten. Bürkle schreibt von einer Rückkehrillusion.

Die These, dass die Migration den Raum mitprägt, hat die Künstlerin öfter aufgestellt. Türkische Zuwanderer haben das Picknicken und Grillen im Grünen in Deutschland – und Österreich – salonfähig gemacht, ihre Gemüseläden oder Schneidereien sind im urbanen Bild mitteleuropäischer Städte zu einem Fixpunkt geworden. Italienische Gastarbeiterfamilien aus dem Veneto wiederum haben mit ihren Eiscafés in den 1960er-Jahren das Mediterrane nach Deutschland gebracht: Sie haben Stühle und Tische auf den Gehsteig, auf die Straße und die Fußgängerzone gestellt und somit die urbanen Sommer neu gestaltet.

Umgekehrt haben südkoreanische Gastarbeiter nach ihrer Rückkehr ein deutsches Dorf aufgebaut (Dogil Maeul), auch viele Vietnamesen haben die europäische Architektur mitgenommen. Über die deutsch aussehenden Häuser in Hanoi sei Bürkle auf die Idee gekommen, dass es sich mit türkischen Gastarbeitern genauso verhalten müsse, erzählt sie. Sie konnte feststellen, dass die Häuser türkischer Gastarbeiter zu einer Hybridform geworden sind: Sie weisen nicht eindeutig eine deutsche Architektur auf, aber auch keine eindeutig türkische. Es ist die Mischform ihrer Eindrücke vom Leben in Deutschland und den Erinnerungen an die eigene Kindheit in der Türkei.

Primeln im Garten. Bürkle hat diese Hybridwesen fotografisch dokumentiert, mitunter wirken sie tatsächlich wie bei einer Zeitreise. An den Tapetenwänden hängen Naturaufnahmen oder Bilder aus Deutschland, etwa eine Aufnahme, die an den Berliner Mauerfall erinnert. In den Gärten der Rückkehrerhäuser wachsen Primeln und Rosenbüsche, der Rasen ist kurz geschoren, die weißen Verandamöbel mit den längs gestreiften Polstern in Orangetönen kennt man aus den 1970ern. Sogar Gartenzwerge wohnen hier. Sie zeugen davon, dass die Rückkehrer mittlerweile auch ein europäisches Gartenverständnis haben, wird die Grünfläche doch in der Türkei mehrheitlich als Nutzfläche wahrgenommen.

Das Buch

Stefanie Bürkle (Hg.)„Migration von Räumen. Architektur und Identität im Kontext türkischer Remigration“. Vice Versa Verlag. 448 Seiten, 29,90 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2016)

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