Sperrt Schweiz Atomkraftwerke früher zu?

Sunflowers grow in front of a cooling tower of the nuclear power plant Leibstadt near the northern Swiss town of Leibstadt
Sunflowers grow in front of a cooling tower of the nuclear power plant Leibstadt near the northern Swiss town of LeibstadtREUTERS
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Hat am Sonntag die Atomausstiegsinitiative Erfolg, müssen drei der fünf Schweizer AKW 2017 abschalten. Der Ausgang ist offen, die Betreiber drohen mit Schadenersatzklagen.

Bern. In der Schweiz findet am Sonntag eine energiepolitisch und wirtschaftlich womöglich folgenschwere Volksabstimmung statt: Die vor allem von den Grünen und linken Gruppen eingebrachte Atomausstiegsinitiative fordert, dass die fünf Atomreaktoren des Landes an vier Standorten (siehe Karte) deutlich früher als geplant abgeschaltet werden, nämlich nach 45 Betriebsjahren.

2011 haben Regierung und Parlament unter dem Eindruck des Nuklearunfalls von Fukushima beschlossen, keine Bewilligungen für neue Reaktoren zur Stromerzeugung mehr zu erteilen und die jetzigen Werke am Ende ihrer sicherheitstechnisch garantierten Laufzeit – 50 bis 60 Jahre – abzuschalten. Eine Beschleunigung des Atomausstiegs um fünf bis 15 Jahre würde aber bedeuten, dass drei der fünf Reaktoren – die zwei des AKW Beznau im Kanton Aargau sowie jener in Mühleberg, Kanton Bern – spätestens nächstes Jahr abgeschaltet werden müssen, denn sie sind 1969 bzw. 1971 aktiviert worden und wären somit überfällig. Block 1 in Beznau von 1969 ist übrigens der älteste aktive kommerzielle Kernreaktor der Welt.

Produktionsverlust auf einen Schlag

Die Regierung ist gegen die Initiative. Die Schweiz, die knapp 40 Prozent ihrer Energieproduktion nuklear erzeugt, würde nämlich ein Drittel ihres Atomstroms und fast 15 Prozent der Gesamterzeugung auf einen Schlag verlieren; sie wäre, da die eigenen Kapazitäten – der Rest stammt fast exklusiv aus Wasserkraft – nicht schnell gesteigert werden können, vorerst lange Zeit von Importen abhängig. Die aber könnten de facto nur aus französischen Atomkraftwerken oder süddeutschen Kohle- und Gaskraftwerken stammen, bei Letzteren gibt es schon jetzt absehbare Lieferprobleme in enormem Ausmaß.

Die jüngsten AKW – Gösgen (Solothurn) und Leibstadt (Aargau) – müssten bei einem Ja 2024 bzw. 2029 vom Netz. Die Abstimmung wird spannend, denn der Ausgang ist unsicher: Befürworter und Gegner lagen zuletzt gleichauf; noch im Oktober waren die Befürworter über 20 Prozentpunkte vor den Gegnern gelegen. Die Meinungsforscher bemerkten auch einen tiefen Graben zwischen linken und rechten Wählern bei dem Thema.

Jährliche Milliardenverluste

Zwei Schweizer AKW-Betreiber, Axpo und Alpiq, haben Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe in den Raum gestellt, sollten die Reaktoren früher schließen müssen: Axpo allein spricht von umgerechnet fast 3,8 Milliarden Euro, denn man habe einst für eine längere Laufzeit (60 Jahre) investiert. Die Ausstiegsbefürworter erwidern, dass die AKW-Betreiber gar keinen Schaden erleiden würden, denn der Strompreis sei wegen eines Überangebotes seit Jahren so niedrig, dass die AKW sowieso Verluste schreiben.

Die AKW-Betreiber räumen das zwar ein: Es gehe um rund 1,9 Mrd. Euro minus im Jahr, der Betreiber Alpiq hat, so hört man, seine moderneren AKW Gösgen und Leibstadt sogar dem französischen Stromkonzern EdF schenken wollen, um sie loszuwerden – doch die Franzosen hätten „Non, merci!“ gesagt. Und BKW, der Eigner von Mühleberg, beschloss im Vorjahr, den Reaktor aus Rentabilitätsgründen 2019 abzustellen. Ungeachtet dessen rechnen Alpiq und Axpo mit wieder steigenden Strompreisen und höheren Rückbaukosten für die Reaktoren bei „Ruckzuck-Abschaltung“, sie verweisen auf den nötigen Importstrom aus Kernenergie und umweltbelastenden kalorischen Werken und darauf, dass Deutschland wegen des dortigen Atomausstiegs in den nächsten Jahrzehnten als Lieferant großteils ausfallen dürfte.

Händereiben in Vorarlberg

In der Schweiz sind von 1979 bis 2003 fünf Initiativen für einen Atomausstieg gescheitert. Mit besonderem Interesse wird das Referendum am Sonntag in Vorarlberg gesehen: Politischer Druck von dort hatte in den 1970ern mitbewirkt, dass ein projektiertes AKW bei Rüthi (St. Gallen) direkt an der Grenze am Rhein vis-à-vis von Feldkirch nicht gebaut wurde. Zudem versucht die Landesregierung seit Jahren, den Betrieb des AKW Mühleberg wegen angeblicher Gefährdung Vorarlbergs zu stoppen. Eine Klage dagegen ging 2012/13 in die Hose: Der Landtag hatte sie geschlossen beim Landesgericht Feldkirch eingebracht, das sich aber für unzuständig erklärte. Der Rekurs beim Oberlandesgericht Innsbruck versandete, da er nicht fristgerecht eingebracht wurde. Weitere angekündigte Klagen hat Vorarlberg nie eingebracht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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