Ein Inselvolk, das China trotzt

(c) Jiang Kehong Xinhua / Eyevine / picturedesk.com
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Die Einwohner Taiwans fühlen sich mehr denn je als Taiwanesen. Präsidentin Tsai macht sich für mehr Unabhängigkeit stark - was Peking mit allen Mitteln verhindern will.

Michael Hong hat seinen Weltenbummlerlook nie abgelegt. In hellbraunen Trekkinghosen und mit ungeputzten Brillen betrachtet er das türkisblaue Wasser vor seinen Füßen. Ein rot-grünes Trachtengilet wölbt sich über seinen Bauch. In allen Teilen der Welt sei er gewesen, erzählt er. Auch Wien habe er einmal besucht. „Vor 15 Jahren bin ich zurückgekommen. Ich bin stolz auf die Schönheit meiner Heimat.“ Die Berge ringsum spiegeln sich in der Oberfläche des Sun Moon Lake wieder. Mit viel Fantasie erinnert die Form des Sees an Sonne und Mond.

Ab und zu fährt ein Ausflugsboot vorbei. Zum Schutz der Umwelt sei die Zahl der Schiffe reglementiert, erklärt Hong. Das spiele im Moment aber keine Rolle. Bis vor Kurzem war die Region bei festlandchinesischen Reisegruppen so beliebt, dass Taiwanesen das Ausflugsziel mieden, sagt Hong. Mehr als vier Millionen Festländer, wie sie auf Chinesisch heißen, reisten 2015 nach Taiwan. Seit der Angelobung der neuen Präsidentin, Tsai Ing-wen, im Mai sei das anders: Heuer im Sommer besuchten um die Hälfte weniger Chinesen den See. Dabei ist die 23-Millionen-Insel stolz auf ihre Gastfreundschaft. „Die schönste Landschaft in Taiwan sind die Menschen“, lautet ein beliebter Sager.


Subtile Druckmittel. Der Rückgang der Touristenzahlen werde sich daher weniger im Bruttoinlandsprodukt als in der Stimmung der Bevölkerung niederschlagen, sagt Connie Chang vom Nationalen Entwicklungsrat. Der Touristenschwund ist einer von Pekings vielen subtilen Druckmitteln, Unzufriedenheit mit der neuen taiwanesischen Führung auszudrücken, erklärt Chiu Chui-Cheng, Vizeminister des Rats für Festlandangelegenheiten: Chinas Behörden beschränkten Ausreisegenehmigungen nach Taiwan, regierungsnahe Reisebüros würden weniger Reisen auf die Tropeninsel anbieten. Auch internationalen Institutionen wie der Polizeiagentur Interpol könne Taiwan aufgrund internationalen Lobbyings der Volksrepublik nicht beitreten. „Peking will nicht anerkennen, dass die Republik China existiert.“

Mit ihrem Erdrutschsieg bei den Präsidentenwahlen im Jänner entmachtete Tsai von der Demokratischen Fortschrittspartei die chinafreundliche Kuomintang (KMT). Nach acht Jahren konstanter wirtschaftlicher und politischer Annäherung weht nun wieder ein rauer Wind über die Taiwan-Straße. Das Festland ist erzürnt, dass Tsai das Ein-China-Prinzip nicht anerkennt: Es gebe ein China, aber unterschiedliche Interpretationen davon, kamen die Volksrepublik und die KMT 1992 überein. Doch Tsai wird sich kaum so wie ihr Vorgänger, Ma Ying-jeou, anbiedern. Sie weiß um die Abneigung junger Taiwanesen vor engeren Beziehungen mit dem Festland. Mit den antichinesischen Sonnenblumenprotesten 2014 spülten sie Tsai an die Macht.

„Ich habe die Präsidentin gewählt, weil sie junge Leute anspricht“, erklärt Emily, Angestellte in einem 24-Stunden-Büchergeschäft in Taipeh. Taiwans Jugend träumt heute mehr als jede andere Generation davon, in einem „normalen Staat“ zu leben. Acht von zehn der jungen Inselbewohner fühlen sich als Taiwanesen. „Sie wollen keine Annäherung zwischen Taiwan und China“, erklärt die 27-Jährige. Doch nicht alle Hoffnungen hat die Präsidentin bis jetzt erfüllt: Die Youngster drängen auf wirtschaftliche Reformen. „Die Löhne in Taiwan sind zu niedrig“, beklagt Emily. Das niedrige Einkommen ist ein Grund für jeden dritten Taiwanesen zwischen 20 und 35 Jahren, ins Ausland zu gehen. Selbst auf dem Festland verdienen sie mehr.

Viele Taiwanesen haben zwei Jobs, erzählt Cai Mingkai. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn, während er mit der Fernsteuerung für einen Miniatur-Mercedes hantiert. „Schmeckt dir der Tee?“, fragt der 34-Jährige seine Mutter, die ihn besuchen gekommen ist. Tausende Eltern mit ihren Kindern tummeln sich an diesem Samstagabend am Stadtrand der Hauptstadt am Ufer des Tamsui-Flusses. Unter der Woche arbeitet Cai als Dentalgerätverkäufer, am Wochenende betreibt er einen Bubbletea-Shop an der Uferpromenade – und vermietet Kinderautos.

Pro Monat verdient der Single etwa 740 Euro. Für eine Freundin sei er zu beschäftigt. Zusätzlich zu jährlich sieben Tagen Urlaub hat Cai nur bei Taifunwarnungen frei, wenn auch sonst niemand außer Haus geht. „Unsere Männer sind so fleißig!“, meint seine Tante Zhang Aiying. Die Immobilienmaklerin ist unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation in Taiwan. „Vor zwanzig Jahren war die Wirtschaft viel besser.“ Mittlerweile macht China dem Exportland immer mehr Konkurrenz, vor allem in der Hightechbranche. Das schwächere Wachstum in der Volksrepublik ist auch in dem Ex-Tigerstaat zu spüren. Umso mehr, da 40 Prozent der taiwanesischen Exporte nach China gehen. Taipeh will nun mehr Geschäfte in Südostasien machen. Damit wäre es nicht so abhängig vom chinesischen Markt – und Peking hätte ein Druckmittel weniger in der Hand.


Zwei Welten. Dennoch will Zhang kein Teil Chinas werden. „Taiwan ist ein gutes Land“, erklärt die ältere Dame. Obwohl ihr die Zeit unter KMT-Führer Chiang Kai-shek, der nach seiner Niederlage gegen die Kommunisten unter Mao Zedong 1949 auf die Insel floh, besser gefiel: „Mit Beginn der Demokratie wurde alles chaotischer.“ Es ist eine Einstellung, die wenige Taiwanesen teilen: Der Diktator ging bis zu seinem Tod 1975 brutal gegen politische Gegner vor. Minister Chiu sieht das demokratische System Taiwans gar als beste politische Waffe, um das Festland international unter Druck zu setzen und ideologisch zu beeinflussen. Nicht nur unterschiedliche politische Ansichten aber machen die Zusammenarbeit zwischen dem Festland und der in den Augen Pekings abtrünnigen Provinz kompliziert. Auch kulturell trennen die beiden Seiten Welten.

98 Prozent der Taiwanesen sind zwar wie die Festländer Han-Chinesen – das „gemeinsame Blut“ ist ein Argument Pekings für die Wiedervereinigung. Doch die Lebensweisen auf dem Festland und in Taiwan drifteten bereits mit der Ankunft der japanischen Kolonialherren 1895 auseinander. Die 50-jährige Herrschaft Japans prägt Taiwans Gesellschaft bis heute. Selbst die rigide Sinisierungskampagne Chiangs konnte die Bewunderung für Japan nicht trüben. „Wir werden niemandem erlauben, jemals einen Teil unseres Territoriums wegzureißen“, sagte Chinas Staatschef, Xi Jinping, jüngst. Auch wenn nur eine Minderheit der Taiwanesen für eine Abspaltung vom Festland ist – ihr Herz schlägt längst nur noch für die „schöne Insel“ Formosa. ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2016)

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