Der lange Schatten des stalinistischen Terrors

Die Säuberungswelle von Josef Stalin forderte Millionen Opfer.
Die Säuberungswelle von Josef Stalin forderte Millionen Opfer.imago/Russian Look
  • Drucken

Die Namen Tausender Schergen des Stalin-Regimes kommen ans Licht. Der Kreml versucht die Sache herunterzuspielen. Der Diktator liegt in Moskau wieder hoch im Trend.

Es herrscht das große Schweigen: Wie kamen sie um? Wie lange nach ihrer Deportation starben sie? Wurden sie gefoltert? Wer waren ihre grausamen Mörder? Oder sind sie noch am Leben? 20 Millionen Menschen fielen der stalinistischen Säuberungskampagne, die 1937 und 1938 ihren Höhepunkt erreichte, zum Opfer - durch Massenerschießungen, in den Gulags, durch Deportationen und die Massen-Hungersnot vor allem in der Ukraine.

Doch mehr als 60 Jahre nach dem Tod Josef Stalins 1953 sind seine Gräueltaten ein Tabuthema. Viele Angehörige und Nachkommen werden nie erfahren, was mit ihren Liebsten passiert ist: Offizielle Untersuchungen zu den Verbrechen an den unzähligen Regimekritikern und Unschuldigen gab es bisher keine.  Denis Karagodin will das ändern. Der 34-Jährige Russe will Anzeige gegen den Mann erstatten, der seinen Urgroßvater vor fast 80 Jahren exekutiert haben soll.

Jahrelang durchforstete er auf der Suche nach dem mutmaßlichen Mörder seines Vorfahren Stepan Karagodin russische Archive. Seine wahren Beweggründe legte er aus Angst, seinen Forschungen könnten ein Ende gesetzt werden, nie offen. Schließlich wurde er fündig: Der studierte Philosoph Stepan Karagodin soll für die Japaner als Spion gegen Russland gearbeitet haben. Obwohl ihn ein Exekutionskommando kurz nach seiner Verhaftung in den 1930er Jahren erschoss, erfuhr die Familie erst viel später von seinem Tod. Die offizielle Begründung lautet noch heute: Karagodin sei in einer Gefängniszelle verstorben.

Kreml warnt vor Spaltung der Nation

Die Geschichte seines Urgroßvaters solle nicht vergessen werden, erklärt Denis Karagodin der "Deutschen Welle". Mit rechtlichen Mitteln wolle er die russische Regierung zwingen, die Rolle der sowjetischen Machthaber im Todesfall seines Verwandten einzugestehen. Daher will er den Mann, der ganz oben an der Befehlskette stand, als sein Vorfahre getötet wurde, posthum des Mordes anklagen. Mord verjährt nach russischer Gesetzgebung nicht. Sein Ziel sei es, die Sowjetbeamten für ihre Rolle in den Massentötungen verantwortlich zu machen, erklärt Karagodin.

Mit seinem Schritt an die Öffentlichkeit könne Karagodin ein Vorbild für andere Russen sein, die ihre Familiengeschichte aufdecken wollen, sagt Irina Scherbakova, eine Vertreterin der Nichtregierungsorganisation "Memorial", der "Deutschen Welle". Die Institution setzt sich seit mehr als 30 Jahren für die historische Aufarbeitung der Repressionen in der Sowjetära ein.

Vor Kurzem veröffentlichte Memorial eine Liste von fast 40.000 Mitarbeitern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, die an den Säuberungen unmittelbar beteiligt waren. Die Vorgängerorganisation des KGB war landesweit für 700.000 Hinrichtungen im Rahmen des Stalin-Terrors verantwortlich. Die Auflistung sei noch nicht vollständig, betont Memorial. Über 15 Jahre lang hat sie der Moskauer Amateurhistoriker Andrej Schukow auf Umwegen zusammengestellt: Die Archive des russischen Geheimdienstes wurden nie vollständig geöffnet. Und daran wird sich so schnell nichts ändern.

"Kein Kommentar. Die Sache ist höchst sensibel", sagte der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Dimitri Peskow, laut der Nachrichtenagentur Interfax zu den jüngsten Enthüllungen. Er warnte davor, die Publikation der Geheimdienstlernamen könne die Gesellschaft in zwei Lager spalten.

Stalin als Vater der russischen Weltgroßmacht

Der Aktivismus von Memorial ist dem Kreml ein Dorn im Auge. Im Oktober erklärte Moskau die wohl bekannteste NGO Russlands zu einem "ausländischen Agenten" - wegen ihrer "politischen Aktivitäten", mit der sie öffentliche Meinung beeinflusse: Die Regierungskritiker nahmen sich kein Blatt vor den Mund, wenn es um den russischen Krieg in Tschetschenien ging, um die Annexion der Krim oder die Ermordung von Oppositionellen.

Dass Stalins Erbe nun wieder angezweifelt wird, passt dem Kreml nicht in das Konzept. Putin fuße seinen Machtanspruch nicht auf freie Wahlen, argumentiert der "Economist". Er setze auf eine geschichtliche Legitimierung und inszeniere sich als Nachfolger der großen russischen Führer der Vergangenheit. Dazu gehöre auch Stalin. Er erhält Anerkennung, die Nazis im Zweiten Weltkrieg besiegt und damit als die Sowjetunion als Weltgroßmacht etabliert zu haben.

Selbst die Bevölkerung kann dem verklärten Bild Stalins immer mehr abgewinnen. "Für Russland ist es wichtig, das Bild einer starken Regierung und einer Großmacht auszustrahlen", erklärte Scherbakova von "Memorial" der "Deutschen Welle". "Und wenn die Leute an Großmacht denken, richtet sich ihr Blick zunehmend auf Stalin als Symbolfigur einer gewaltigen Staatsmacht."

>>> Bericht in der "FAZ".

>>> Bericht auf "Deutsche Welle".

>>> Bericht in der "Washington Post".

>>> Zum "Economist".

>>> "Memorial" (auf Russisch).

>>> Blog von Denis Karagodin (auf Russisch).

(Red.)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.