Rios Kollaps nach Olympia

2016 Rio Olympics: A holiday in Rio's favelas
2016 Rio Olympics: A holiday in Rio's favelas REUTERS
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Die „Stadt der Wunder“ versinkt nach dem Abzug der olympischen Sportler vor drei Monaten im Chaos: Rio de Janeiro ist bankrott und von Korruption zerfressen.

„Das Stadion dort“, sagt Jefferson Teixera und zeigt durch den grünen Zaun auf die Tennisarena an der Avenida Embaixador Aberlardo Bueno „habe ich mitgebaut“. Es ist ein strahlender Frühsommertag in Barra da Tijuca nahe Rio de Janeiro, diesem Mini-Miami, das vor drei Monaten die Welt zu Gast hatte und dessen weitläufige Trottoirs nun monumental verwaist in der Tropensonne braten. „Geschuftet haben wir hier, geschwitzt, Überstunden geschoben, alles musste schnell gehen, alles musste schön und modern aussehen.“ Doch das ist schon lang her. Drei Monate können eine Ewigkeit sein, wenn kein Lohn mehr eingeht. Wenn ein Familienvater nicht mehr weiß, wie er seine Kinder ernähren soll. „Die Besucher sind fort, die Profite wurden im Ausland gemacht und ich bin arbeitslos und ohne Perspektive. Das hier war wie ein Traum.“

Doch der ist längst verflogen. Und die Stadt, die 17 Tage im August Blickfang war für alle Welt, ist nun nur noch eine brasilianische Metropole mit Millionen Problemen. Rio de Janeiro erlebt eine brutale Katharsis, auf die der Kollaps folgen könnte.

Die „Stadt der Wunder“ wurde zum Schauplatz einer dramatischen Fehlentwicklung, nicht allein ausgelöst von Fußball-WM und Olympischen Spielen. Aber fraglos verstärkt durch die falschen Hoffnungen, die diese Mega-Events auslösten und die öffentlichen Mittel, die dafür eingesetzt und offenbar auch abgezweigt wurden. Nun ist er versiegt, der Zufluss von Investorengeldern, Sonderfonds, Bundesmitteln. Schon im Juni rief der Gouverneur den öffentlichen Notstand aus. Anfang November blockierte die Zentralregierung auch noch die Konten des Bundesstaates. Rio de Janeiro ist bankrott.

Im Stadtzentrum blockierten vor den Spielen Hunderte Baustellen den Verkehr, nun sind es deren frühere Arbeiter. Die Wiederbelebung der Innenstadt, ein Prestigeprojekt des scheidenden Bürgermeisters, Eduardo Paes, wurde Realität – allerdings als Aufmarschgebiet für Protestierende und Polizisten. Und die Uniformierten, das ist für viele das erschreckendste Kapitel in dieser postolympischen Saga, gehörten bereits mehrfach zu den Demonstranten. Denn ihr Arbeitgeber, der Bundesstaat Rio de Janeiro, kann sie nicht mehr regelmäßig entlohnen.

Inzwischen bitten manche Reviere die Bevölkerung um Spenden – Papier, Büromaterialen, Benzin. Sogar Überwachungskameras erbat ein Wachzimmer, dessen Videoanlage gestohlen worden war. In öffentlichen Kliniken fehlen Medikamente, zig Mittel- und Oberschulen sind besetzt und im Complexo do Alemão steht die Seilbahn still. 2011, bei ihrer Einweihung, ist sie als Symbol gefeiert worden für die Öffnung und Normalisierung der 25 Favelas unter ihren Gondeln.

Mit den Seilwinden des Vorzeigeprojektes kam auch die einst weltweit publizierte Befriedung der Elendsviertel zum Stillstand. Heute sind Rios fast 1000 Favelas wieder Kriegsgebiet der vier Drogensyndikate, paramilitärischer Milizen und der Militärpolizei. Vor zwei Wochen stürzte ein Helikopter der Militärpolizei auf die Favela Cidade de Deus, seit dem gleichnamigen Kinofilm von 2001 ein Symbol für die graue und stinkende Hölle hinter dem Rücken von Christus auf dem Corcovado. Das havarierte Fluggerät, dessen vier Insassen starben, war einsatztauglich, wie die Behörden betonten. Nun fragen sich Bürger und Politiker, ob die Drogengangs inzwischen auch Boden-Luft-Waffen einsetzen.

Im Morast der Korruption. Das zweite große Thema dieser Tage ist der prominente Insasse des „complexo penitenciário de Gericinó“: Mitte November wurde Sérgio Cabral verhaftet, der als Bürgermeister, Senator und zweimaliger Gouverneur des Bundesstaates den Höhenflug der Stadt eingeleitet, bestärkt und offenbar auch ausgenutzt hat. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, 224 Millionen Reais gestohlen und gewaschen zu haben, umgerechnet etwa 62 Millionen Euro. Der einstige Journalist verfing sich im Morast des Petrolão, jenes gigantischen Schmiergeldsumpfes um die Auftragsvergabe bei der staatlichen Ölfirma Petrobras.

Die Ermittler, die mithilfe der Kronzeugenregelung immer weitere Kreise der Elite des Landes ins Visier nehmen, stießen auf den 53-Jährigen durch die Aussage eines Direktors von Odebrecht. Südamerikas größter Baukonzern errichtete das Stadion Engenhão, in dem die Leichtathletikbewerbe stattfanden, und gehörte zum Konsortium, das das Maracanã-Stadion vor der WM für 300 Millionen Dollar modernisierte. Zudem trieb der Konzern die U-Bahn durch Granitfelsen bis nach Barra da Tijuca, verwandelte den alten Hafen in ein Vergnügungsviertel. Und zog Olympiapark und olympisches Dorf hoch.

Vom geständigen Topmanager haben die Ermittler erfahren, dass sich Gouverneur Cabral seinen Segen stets mit sieben Prozent des Auftragsvolumens vergelten ließ. Davon seien fünf Prozent an ihn sowie jeweils ein Prozent an die zuständigen Minister und Finanzbeamten geflossen. Nun bekommen die Brasilianer in den Medien Bilder gezeigt von Cabrals Villa im Beach Club Portobello, dem Helikopter, der ihn dorthin flog, einer Motorjacht namens Manhattan Rio, mehr als 300 Schmuckstücken, Gemälden und edlen Schweizer Uhren. All das wurde inzwischen konfisziert.

Zwischen 2007 und 2014 regierte Cabral, übrigens Parteifreund des aktuellen Präsidenten, Michel Temer, den Bundesstaat Rio de Janeiro. In diesen Zeitraum fielen die Vergaben der Fußball-WM und der Olympischen Spiele. Wahrscheinlich war diese Zeit nicht einmal seine verhängnisvollste Phase.

Denn in seine Amtszeit fiel auch der Boom nach der Entdeckung der gigantischen Tiefseeölvorräte vor der Küste. Wie Präsident Lula malte sich Cabral das angegraute und ausgefranste Rio als blühende Ölmetropole aus. Er sah die Zeit gekommen, um Rios historische Niederlage, den Fortzug der Regierung nach Brasília 1960, wettzumachen und den Abstand zum industriellen Kraftzentrum São Paulo zu verringern. In Aussicht auf einen steten Strom aus Petro-Reais lockte er Konzerne und auch Mittelständler an die stinkende Guanabara-Bucht und gewährte dabei weitreichende und wohl auch wenig transparente Steuerbefreiungen. Gleichzeitig blähte er den Personalstand des öffentlichen Sektors auf. Doch dann stürzten die Ölpreise in den Keller, die aufwendige Tiefseeförderung wurde unrentabel und Rio mutierte nicht zum Tropen-Dubai, sondern zu Brasiliens Venezuela.

Keine Zuwendungen. Nun hat die neue Zentralregierung beschlossen, dass Rio die Durststrecke selbst muss. Sie verwehrte dem Bundesstaat jegliche neuen Zuwendungen. Das bedeutet, dass Staatsbedienstete, auch Polizisten, Gefangenenwärter und Feuerwehrleute ihr Gehalt nur noch in Raten bekommen. Dass Pensionen reduziert werden. Das Weihnachtsgeld wird ausfallen. Und Steuern auf Bier, Zigaretten und Benzin werden erhöht. Brasiliens neuer starker Mann, Finanzminister Henrique Meirelles, sagte deutlich: „Der Fall Rios taugt als Lehrbeispiel. Irgendwann kommt die Rechnung – und einer muss sie zahlen.“

Olympia

Die Olympischen Spiele fanden vom 5. bis 21. August in Rio de Janeiro statt. Es war erst das zweite Mal, dass die Spiele in Lateinamerika ausgetragen wurden. Rio ist seit Ende der Spiele damit beschäftigt, die Nachwehen aufzuarbeiten. Mit dem Bau der neuen Stadien – auch für die Fußball-WM 2014 – entwickelte sich ein Korruptionssumpf. Rio hat nun kein Geld mehr und muss ein drastisches Sparprogramm einführen. Proteste gehören zum Alltag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2016)

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