Kein (Gast)Land in Sicht

Übers Mittelmeer nach Europa.
Übers Mittelmeer nach Europa.Reuters
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Die EU einigte sich 2015 auf die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland. Außer hehren Worten ist wenig passiert. Ein Lokalaugenschein in Sizilien.

Das Boot, auf dem er kam, war am Sinken, als die italienische Küstenwache Sultan Abdullah und 162 andere, von denen er erzählt, an Bord nahm. „Es war ein Gummiboot, total überfüllt. Wenn die Italiener uns nicht gerettet hätten . . .“

Abdullah spricht den Satz nicht zu Ende. Der 27-Jährige steht auf der Straße des Flüchtlingscamps Mineo auf Sizilien. Rechts und links bunte zweistöckige Häuser, Wäsche auf Leinen zwischen den Straßenlaternen. Hier landete er, nachdem er in Syrakus an Land gebracht worden war, erzählt der große junge Mann, während er die eckige Hipsterbrille mit dem braunen Horngestell auf der Nase zurechtrückt. Abdullah hat Asyl beantragt. In Italien will er aber nicht bleiben.

Er läuft durch die Straßen des Camps. Jeden Tag. Seit einem halben Jahr. Er trägt eine Tasche, als würde er jeden Moment gehen können. „Sie haben mir gesagt, es dauert nicht länger als sechs Monate“, sagt er und schaut sich um. Die gelben, roten und terrakottafarbenen Häuser der einstigen Kaserne liegen im Landesinneren der grünen Insel. Wann über seinen Antrag entschieden wird, weiß Abdullah nicht. Zwei Monate sind die offizielle Vorgabe.


Ethnische Trennung gegen Streit. Je zehn Personen leben zusammen in diesen Häusern. Nach Ethnien getrennt, „damit es keinen Streit gibt“, wie der Direktor des Zentrums, Sebastiano Maccarone, sagt. Rund 3100 Migranten wohnen derzeit hier. Sie haben in Italien Asyl beantragt. Wie Abdullah wollen aber etwa 900 nicht in Italien bleiben und haben sich für das Umverteilungsprogramm der EU beworben.

„Die Nachfrage nach dem Programm übersteigt bei Weitem die Plätze, die von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden“, sagt Maccarone. Das Problem: Viele Staaten machen nicht mit oder bieten nur zögerlich Plätze an. Im September 2015 wurde das Programm von den EU-Staaten beschlossen. Bis September 2017 sollen demnach 160.000 Menschen aus Italien und Griechenland in andere EU-Länder verteilt werden, um erstere zwei zu entlasten. Deutschland wollte davon 27.500 aufnehmen. Ende September wurde beschlossen, dass zusätzlich weitere 54.000 von diesen 160.000 Personen kommen können; Hintergrund war das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei für die Aufnahme von Syrern aus der Türkei. Doch die magere Bilanz nach mehr als einem Jahr: Bis Mitte November wurden 1645 Asylbewerber aus Italien in andere EU-Staaten gebracht. Letztere sind angehalten, Brüssel neue Plätze zu melden. Doch das läuft, gelinde gesagt, zäh. Berlin hat jüngst angekündigt, jeden Monat 500 Zuwanderungswillige aus Italien aufzunehmen. Auch Athen hat man das versprochen.

„Würde das Programm so laufen, wie es beschlossen wurde, würde das Italien schon sehr helfen“, sagt Präfekt Mario Morcone. Er ist im Innenministerium in Rom für Flüchtlingsfragen zuständig. Morcone zweifelt an der Solidarität der EU-Staaten: „Der Punkt ist: Haben wir das wirklich ernst gemeint, als wir das entschieden haben?“

Seit Spätsommer 2015 gilt die „Juncker-Agenda“, der Kern der EU-Politik in Sachen Migration. Einerseits wird Italien dadurch in die Verantwortung genommen, Ankommende zu registrieren und an der illegalen Weiterreise zu hindern. „Andererseits geht es auch um Solidarität in Form der beschlossenen Verteilung“, sagt Morcone. „Punkt eins klappt. Punkt zwei nicht.“

Neuer Ankunftsrekord aus Afrika. Dabei hat sich die Lage in Italien heuer weiter verschlechtert. „Es sind 165.000 Menschen aus Afrika angekommen, 26.000 davon unbegleitete Minderjährige. In manchen EU-Ländern, speziell in Osteuropa, denkt man noch immer, dass das ein italienisches Problem ist.“ Im Vergleich zum Rekordjahr 2014 wurden heuer schon um 16 Prozent mehr Menschen aus dem Meer geholt. Die vier Hotspots des Landes sollen überfüllt sein; Journalisten will man dort nicht sehen. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt.

„Die Verteilung hängt von der Bereitschaft der Länder ab“, sagt Morcone. Gut laufe es etwa mit Portugal, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, sehr schlecht mit Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Selbst das kleine Zypern hat mit einer Handvoll Flüchtlinge einen symbolischen Beitrag geleistet. Doch Österreich, Ungarn und die Slowakei sollen bis heute im Rahmen des Programms noch keinen Flüchtling übernommen haben.

Deutschland arbeitet an seiner Bilanz, um ein Vorbild für andere Staaten zu sein – aber auch erst seit Kurzem. Seit Februar stieg nämlich die Zahl derer, die man aus Italien holte, nicht mehr: In der Tabelle stand neben Deutschland monatelang die Zahl 20. Das Programm hatte keine Priorität. Im Oktober wurde versprochen, monatlich 500 Menschen umzusiedeln. Mitte November kam ein Flugzeug mit 182 Menschen in München an, das bei der Umverteilung angeflogen wird. Die nächsten Flüge sind erst für diesen Monat geplant, heißt es. Sie sollen aus Griechenland kommen.

Wünschen wird man ja noch dürfen. Um verteilt werden zu können, muss man in Italien oder Griechenland Asyl beantragt haben und aus Staaten stammen, bei denen die Anerkennungsquote bei Asylanträgen ihrer Bürger in der EU mindestens 75 Prozent beträgt. Wünsche bezüglich des Gastlandes kann man äußern, berücksichtig werden vor allem Familienanbindung und Sprachkenntnisse.

Da er aus Eritrea kommt, hat Abdullah gute Chancen. Ob er aber in sein Wunschland, Deutschland, kann, ist quasi ein Glücksspiel. Er habe einen Studienabschluss in Computertechnik, sagt er. „In Italien sehe ich keine Chance auf einen Job und ein gutes Leben.“ Doch nach Deutschland habe er keine Verbindungen. Er kenne dort niemanden. Deutsch spricht er nicht. Wie lang er noch bleiben muss und welches Land ihn nehmen wird, weiß er nicht. „Ich spiele Basketball oder schaue Fernsehen, um die Tage herumzukriegen“, sagt er und rückt die Schirmmütze der New York Yankees aus der Stirn. Im Camp von Mineo fühle er sich an sich wohl. „Mehr kann ich nicht verlangen.“

Hintergrund

Im September 2015 beschlossen die EU-Staaten, bis 2017 160.000 in Italien und Griechenland aufhältige Asylwerber in andere EU-Länder zu verteilen. Deutschland wollte davon 27.500 aufnehmen und sagte heuer noch einmal 54.000 Plätze zu, die mit über die Türkei kommenden Menschen gefüllt werden sollen. Doch die magere Bilanz bisher: Bis Mitte November zogen nur etwa 1700 Asylwerber aus Italien und etwa 6000 aus Griechenland weiter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)

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