Schweinegrippe versetzt Ukraine in Panik

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ukraine(c) REUTERS (STRINGER/RUSSIA)
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Fast 200.000 Erkrankte, kein Impfstoff und kaum Medikamente. Im Westen des Landes gilt der Notstand.

Kiew. Am Wochenende war die Kiewer Innenstadt wie leer gefegt. Die Geschäfte und Cafés waren nur mäßig besucht, viele der Menschen tragen Masken oder einen Schal vor dem Gesicht.

Am Freitag hatte die ukrainische Regierung den Notstand ausgerufen. Neun Regionen im Westen stehen unter Quarantäne, und in den nächsten drei Wochen bleiben landesweit alle Bildungseinrichtungen inklusive Kindergärten geschlossen. Innerhalb weniger Tage sind fast 60 Menschen an Grippe gestorben, im ganzen Land sind fast 200.000 Menschen erkrankt.

„Die Epidemie breite sich mit rasendem Tempo aus“, sagte Präsident Viktor Juschtschenko. Vor allem der Westen des Landes ist stark betroffen, 23 der Toten stammen aus Lwiw (Lemberg), wo es 78.000 Erkrankte gibt. Auffällig ist, dass die Opfer zwischen 20 und 50 Jahre alt sind und keine chronischen Vorerkrankungen gehabt haben sollen. „Die Quarantäne kann jederzeit auf andere Landesteile ausgeweitet werden“, sagte Gesundheitsminister Wassily Knyasewitsch.

Leer gekaufte Apotheken

Nachdem der Ausbruch des Virus publik wurde, waren im ganzen Land Panikkäufe in den Apotheken zu beobachten. Bereits am Freitagnachmittag hatten die Händler in der Hauptstadt Kiew ihre Geschäfte geschlossen und die Kunden nur noch durch den Nachtschalter bedient. Vor einer Apotheke im Zentrum stehen etwa 20 Leute. „Ich bin auf der Suche nach Gesichtsmasken und würde mir gerne ein paar Packungen Tamiflu besorgen“, sagt eine Geschäftsfrau. Auch Boris, ein Student aus Sumy, will sich einen Atemschutz kaufen. Doch er hat Pech: Wie fast überall sind sie auch in dieser Apotheke bereits ausverkauft.

Seit drei Tagen wird landesweit in TV, Internet und auf Flugblättern, die in allen Städten verteilt werden, darauf hingewiesen, wie man sich gegen die Grippe schützt, und was im Krankheitsfall zu tun ist: „Gehen Sie bei Symptomen wie hohem, schnell ansteigendem Fieber sofort zu einem Arzt.“ Doch wenn sich die Patienten bei ihren Ärzten melden, sind die meisten Mediziner überfordert und unvorbereitet. Das Land hält weder Impfstoff vorrätig, noch sind genügend Medikamente vorhanden.

Zitronen und Knoblauch sollen helfen

Die ukrainische Regierung bekommt das Problem allein nicht in den Griff. Bereits am Freitag hat man die Weltgesundheitsorganisation um Hilfe gebeten, am heutigen Montag wird eine Delegation die Gebiete der Westukraine aufsuchen, um sich einen Eindruck über die Situation in den Krankenhäusern und Ärztezentren zu verschaffen. Zudem hat die Ukraine seine Nachbarn Polen und Russland um Hilfe gebeten, aus der Slowakei hat man am Sonntag 200.000 Schutzmasken erhalten.

Währenddessen macht sich in der Westukraine Panik breit, vor allem in den am stärksten betroffenen Städten Lwiw und Ternopil sind die Menschen verunsichert. Das öffentliche Leben ist dort fast zum Erliegen gekommen. Das Fernsehen zeigte am Wochenende Bilder von menschenleeren Straßen, geschlossenen Geschäften und dem gesperrten Bahnhof in Ternopil. Die meisten Apotheken dort sind offenbar geschlossen. Die Leute kauften auf den Märkten vermehrt Zitronen, Knoblauch und Zwiebeln, in der Hoffnung, damit ihr Immunsystem zu stärken oder Bakterien abwehren zu können, berichtet die Nachrichtenagentur UNIAN. Lokale TV-Sender meldeten, dass Flugzeuge und Hubschrauber der Armee die Städte Uschgorod und Lwiw mit Chemikalien besprühten, um das Virus abzutöten.

In Kiew wird abgewiegelt

In Zschitomyr 300 km westlich von Kiew fliehen die Leute aus dem Krankenhaus. Eine Ärztin sagte im Gespräch mit der „Presse“, sie wisse nicht, wie sie die verbleibenden Patienten versorgen solle: „Es fehlt nicht nur an Medikamenten, ich habe kein heißes Wasser und kann die Zimmer nicht richtig heizen“, klagte Dr. Ludmilla Goliaschenko. In der krisengeschüttelten und extrem finanzschwachen Exsowjetrepublik herrscht seit Jahrzehnten eine mangelhafte Gesundheitsversorgung. Viele gehen deshalb gar nicht erst zum Arzt, sondern greifen zu Hausmitteln.

In Kiew wird derweil noch abgewiegelt: „Derzeit gibt es keinen einzigen Krankheitsfall in der Hauptstadt“, beschwichtigte Alexander Ponomarenko, oberster Hygieneinspektor von Kiew. Doch es werden auch hier bereits Maßnahmen getroffen. Der Hauptbahnhof wird seit Sonntagnacht alle zwei Stunden nass gewischt und desinfiziert. Hier kommen die meisten Berufstätigen Kiews an, weil fast alle außerhalb in den Schlafstädten leben – oder gar in den weiter entfernten Regionen im Westen, die so stark von dem Virus heimgesucht werden.

AUF EINEN BLICK

Fast 200.000 Menschen sind in der Ukraine bereits am H1/N1-Virus erkrankt, bis zu 60 Todesopfer sind bereits zu beklagen. Das notorisch schlechte Gesundheitssystem des Landes ist von dem Ausbruch völlig überfordert, es gibt zu wenig Medikamente, und Schutzmasken – und keinen Impfstoff.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2009)

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