Ukraine: Ein Virus stürzt das Land ins Chaos

UKRAINE H1N1 SWINE FLU EPIDEMIC
UKRAINE H1N1 SWINE FLU EPIDEMIC(c) EPA (PHOTOMIG)
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Ohne internationale Hilfe wird die Ukraine der neuen Grippe nicht mehr Herr. Ein Viertel des medizinischen Personals hat sich angesteckt, es fehlt an Impfstoff. Die Slowakei riegelt ihre Grenzen ab.

Kiew. Es ist eine fast unvorstellbar hohe Zahl: 66.000 neue Krankheitsfälle wurden am vergangenen Samstag vom ukrainischen Gesundheitsministerium registriert. 66.000 neue Grippeinfektionen – an nur einem Tag.

Die Neue Grippe hält die Ukraine noch immer in Schach. Eine Woche, nachdem die Epidemie den Westen des Landes erfasst hat, breitet sich die Epidemie weiter rasant aus. Galt die Quarantäne zuerst für neun westliche Bezirke, steht nun auch das zentralukrainische Kirowograd unter Sonderbewachung; die östliche Stadt Lugansk könnte bald folgen.

In den Quarantänegebieten steht das Leben praktisch still. Kinos, Theater, Märkte sind geschlossen; alle Bildungseinrichtungen haben seit einer Woche landesweit ihren Dienst eingestellt. In der Hauptstadt Kiew wurden erste Todesfälle gemeldet. Wie überall gibt es auch dort zu wenig Krankenhausbetten, Personal, Ausrüstung und Medikamente. Die Millionenstadt Kiew halte bloß 200Betten für infektiöse Krankheitsfälle bereit, schreibt die ukrainische Zeitung „Zerkalo Nedeli“.

Unterdessen hat die Slowakei ihre Grenze zum östlichen Nachbarland weitgehend geschlossen. Nur ein Übergang bleibt geöffnet: Hier sollen Ärzte die Reisenden kontrollieren und mutmaßlich Infizierten die Einreise in die EU verbieten. Mit dieser vorübergehenden Maßnahme solle die Ausbreitung der Krankheit in den EU-Staaten verhindert werden, erklärte der slowakische Innenminister Robert Kalinák.

Viele Ärzte angesteckt

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat wegen der schweren Grippewelle in der Ukraine die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten. Das Land benötige dringend Medikamente, medizinische Fachkräfte und Diagnosemittel, sagte der Leiter der seit Wochenbeginn in der Ukraine tätigen WHO-Delegation, Jukka Pukkila. Es fehle an Testmöglichkeiten, um alle Grippefälle auf H1N1-Viren zu überprüfen. Bei 47Toten sei das Virus mittlerweile durch Tests nachgewiesen worden, sagte Pukkila. Allerdings geht man von mehr als hundert Grippetoten aus. Nach WHO-Angaben wird die Lage in der Westukraine dadurch erschwert, dass sich ein Viertel des medizinischen Personals bereits mit dem Virus angesteckt hat.

Seit Anfang der Woche erreicht internationale Hilfe die Ukraine. Zuletzt landete am vergangenen Freitag ein Flugzeug aus Österreich in Kiew, an Bord eine Lieferung aus der EU. Neben der WHO-Delegation, die bereits seit mehreren Tagen die besonders stark befallenen Gebiete untersucht, hat nun auch die EU-Kommission ein fünfköpfiges Team ins Land geschickt. „Die Experten sollen im Auftrag der EU Hilfsmaßnahmen ausarbeiten“, sagte David Stulik, Pressesprecher der EU-Delegation in Kiew. Die WHO ist sich sicher, dass es „für eine Impfkampagne in der Ukraine noch nicht zu spät ist“, wie Jukka Pukkila erklärte.

Da es weltweit jedoch zu wenig Impfstoff gebe, untersuche die WHO derzeit, welche Gebiete in der Ukraine mit welchem Medikament versorgt werden sollen, so der finnische Mediziner. Das Land bräuchte allein 12,5Millionen Impfstoffdosen gegen den H1N1-Erreger, erklärte Olexander Bilowol, oberster Sanitätsarzt der Ukraine. Derzeit verfüge man über keinen Impfstoff.

Nur Privilegierte leisten sich Arzt

Offenbar hat man es verabsäumt, Vorbereitungen für die angekündigte Grippewelle zu treffen. Von den 300.000 Einwohnern der Stadt Tscherkassy haben sich nur 28Personen gegen die normale Grippe impfen lassen. Solche Zahlen verdeutlichen, dass vorwiegend Besserverdienende einen Arzt aufsuchen. Das staatliche Gesundheitssystem der Ex-Sowjetrepublik ist in einem desolaten Zustand: Das Krankenhauspersonal ist unterbezahlt, die Häuser sind schlecht oder kaum ausgerüstet. Es ist üblich, dass die Patienten ihre Medikamente selbst mitbringen und den Arzt und die Schwestern bestechen, bevor es überhaupt zu einer Untersuchung kommt.

Privatärzte verlangen ihr Honorar meistens in Dollar oder Euro, weshalb die meisten Ukrainer ihre Krankheiten mit Hausmitteln auskurieren. Diese Situation spielt der Verbreitung des Grippevirus nun in die Hände.

Wird Notstand ausgerufen?

Die verschiedenen politischen Lager sind derzeit mit Wahlkampf beschäftigt, am 17.Jänner sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden. Falls es der Regierung nicht gelinge, die Grippeepidemie unter Kontrolle zu bekommen, müsse möglicherweise der Notstand im Land ausgerufen werden, hieß es aus dem Büro von Präsident Viktor Juschtschenko. Auch eine Verschiebung der Wahlen auf den 30. Mai sei nicht ausgeschlossen.

Zusammen mit den internationalen Organisationen will die Regierung in den nächsten zehn Tagen einen nationalen Hilfeplan ausarbeiten. Ohne Unterstützung aus dem Ausland in Form von Medikamenten, medizinischem Personal und finanzieller Hilfe wird die Ukraine der Epidemie nicht Herr werden, hieß es vonseiten der EU. Mehr über die Ukraine, S.16

AUF EINEN BLICK

Grippewelle in der Ukraine.
In der Ukraine sind mehr als 750.000 Menschen an der Neuen Grippe erkrankt. Allein am vergangenen Samstag zählte das Gesundheitsministerium 66.000Neuansteckungen.

Grippewelle in Europa. Bisher sind in Europa 317H1N1-Infizierte verstorben, die meisten Todesfälle gab es bisher in Großbritannien, Irland, Spanien und Norwegen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2009)

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