Was die jungen Griechen so wütend macht

(c) Reuters (John Kolesidis)
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Schattenwirtschaft, Schattenausbildung, Schattengesundheitssystem: Im „Para-Staat“ existiert alles doppelt. Die griechische Jugend sieht keine Perspektiven und misstraut den Behörden zutiefst.

Athen. Dionysis Karageorgiou sitzt zwischen zerbrochenen Pflastersteinen, verkohltem Müll und zersplitterten Scheiben auf den Stufen der Athener Universität. Wieder einmal gab es Randale. Doch anders als im Dezember 2008 ging die Polizei diesmal effizient gegen Gewalttäter vor, bewahrte das Geschäftsviertel vor völliger Zerstörung. Dionysis hat die geballte Präsenz der Sondereinheiten als Provokation empfunden, das Misstrauen gegen jede Staatsmacht sitzt tief in Griechenland.

Selbstverständlich war er auf den Demonstrationen, die das Andenken an Alexis Grigoropoulos ehren sollten, den 15-jährigen Schüler, den am 6. Dezember 2008 eine Polizeikugel getötet hatte. Einfach so, nicht einmal auf einer Demonstration, nur verbale Provokationen seitens des Jungen waren vorausgegangen, pubertäre Machtspielchen. Alexis' Tod hat die Gesellschaft zutiefst aufgewühlt, „seine Erschießung war der Funke, der ein hochexplosives soziales Gemisch zur Explosion gebracht hat“, sagt Dionysis. Nein, er findet nicht, dass Randalieren der richtige Weg sei, um etwas zu verändern. Er selbst hat weder im vergangenen noch in diesem Jahr Steine geschmissen, aber verstehen kann er die Wut schon.

Der 28-Jährige hat vor vier Jahren seinen Abschluss in griechischer Philologie und Soziologie mit besten Noten gemacht. Er würde gern als Lehrer arbeiten, sucht wie viele Griechen die Sicherheit beim größten Arbeitgeber des Landes, dem Staat. Aber um in den öffentlichen Dienst aufgenommen zu werden, müsste er noch einmal gesonderte Prüfungen ablegen, danach käme er erst einmal auf eine Warteliste. „Ich kann meinen Eltern im Moment nicht zumuten, mich noch ein Jahr durchzufüttern, damit ich für diese Prüfungen lernen kann“, sagt Dionysis.

Also jobbt er, auch beim Staat, aber nur mit Zeitvertrag, das ist fast schon normal. Für 580 Euro im Monat sitzt er in der Telefonauskunft. „Davor hatte ich einen Job beim Arbeitsamt, für noch weniger Geld, auch wieder zeitlich begrenzt und unversichert!“ Wie die meisten Altersgenossen lebt Dionysis bei seinen Eltern, eine eigene Wohnung kann er sich nicht leisten. Er weiß auch, dass er ohne die Aufopferung der Eltern seinen Abschluss nie geschafft hätte.

Unversteuerte Zweitjobs

So gut wie kein Schüler besteht die Aufnahmeprüfungen zur Universität ohne den Besuch der sogenannten Frontistiria. Dort wird weit mehr betrieben als sporadischer Nachhilfeunterricht. Kein Grieche erwartet, dass seine Kinder an der öffentlichen Schule Fremdsprachen lernen, obwohl sie auf dem Lehrplan stehen. Doch wie bei vielen Beamten, lässt auch bei den Lehrern der Arbeitseifer schnell nach, sind sie erst einmal fest im Staatsdienst. Richtig gelernt wird dann in den Frontistiria oder privaten Nachhilfestunden. Nicht selten sind es die selben beamteten Lehrer, die sich nachmittags ein Zubrot zu ihrem Gehalt von ca. 1400 Euro verdienen.

Das ist natürlich illegal und, sofern der Nachhilfeunterricht zu Hause stattfindet, meist auch Schwarzarbeit. Und es geht um viel Geld. Für zwei Kinder rechnen Eltern durchschnittlich mit 500 Euro im Monat für die „parapaidia“, die „Schattenausbildung“. Und wenn es auf die Matura zugeht, steigen die Kosten schnell aufs Doppelte. Um das bezahlen zu können, suchen sie sich dann einen Zweitjob in der „paraoikonomia“, der „Schattenwirtschaft“, ohne Quittung und ohne Finanzamt. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass 40 Prozent des Inlandprodukts am Staatssäckel vorbei erwirtschaftet werden.

Ein Kuvert für den Herrn Doktor

Auch das ist natürlich illegal. Aber warum sollen sich Kleinverdiener darüber graue Haare wachsen lassen, wenn stadtbekannte Rechtsanwälte, Architekten und Ärzte Gehälter versteuern, die auf dem Niveau der niedrigsten Beamtenpensionen liegen? Steuerflucht wird so selbstverständlich hingenommen wie die Tatsache, dass man einem Arzt im öffentlichen Krankenhaus ein „fakelaki“, „ein Umschlägchen“ mit einigen Hundertern zustecken muss, um schnell einen OP-Termin zu bekommen. „Parahygia“ heißt das dann, „Schattengesundheitssystem“.

Die Schatten über der griechischen Wirtschaft haben sich über viele Jahrzehnte so verdichtet, dass das Land vor dem Staatsbankrott steht. Die Sozialisten unter Georgios Papandreou, die Anfang Oktober die Wahl gewonnen haben, müssten nun die Staatsfinanzen nach strengen Vorgaben der EU sanieren. Einschnitte wie etwa die Abschaffung staatlicher Frühpensionen schon nach 15 Dienstjahren stehen auf der Agenda der nächsten Wochen. Eine Steuerreform soll Besserverdiener zur Kasse bitten, vor allem aber Instrumente zur Eindämmung der Schattenwirtschaft bereitstellen.

Gemeinwesen ohne Wurzeln

Kaum jemand im Land, der die Notwendigkeit dieser Maßnahmen nicht einsieht. Doch wenn sie die eigene, ganz persönliche Interessenslage tangieren, sucht jeder sofort nach einer Ausnahmeregelung, nach einem „parathyraki“, einem „Fensterchen“. „Es gibt einen unsichtbaren Faden, der sich durch alle Probleme des Landes zieht“, kommentierte der Journalist Foivos Karzis die aktuelle Diskussion über die Befugnisse der Polizei, gegen randalierende Demonstranten vorzugehen, „es ist die Verneinung einer Verpflichtung zur Legalität für alle, die fehlende Akzeptanz von gemeingültigen Regeln.“

Ein rechtsstaatliches Gemeinwesen, dem alle als Bürger verpflichtet sind, hat in Griechenland noch keine sehr tiefen Wurzeln. 1913 erst zogen die Osmanen endgültig aus den letzten Gebieten ab, es folgten die Weltkriege, der Bürgerkrieg, die Militärdiktatur bis 1974. Freiheitsliebe und Kampf gegen Fremdherrschaft erfüllen die Griechen bis heute mit Stolz. Die Freiheit des Bürgers aber wird inzwischen oft mit einer Erfüllung individueller Einzelinteressen gleichgesetzt, die die Rechtssicherheit für alle gefährdet.

Durchmogeln erste Bürgerpflicht

Diese Rechtssicherheit hat die Polizei diesmal zu garantieren versucht, als sie Jugendliche daran hinderte, Ladenbesitzern die Existenz zu ruinieren. Wohl noch nie war die Resonanz auf den Einsatz der nach wie vor verhassten Staatsgewalt so positiv wie nach diesem Wochenende. „Wir haben gesehen, dass in einer Bürgergesellschaft die Polizei nach denselben Regeln handeln kann, an die sich die Demonstranten halten sollten“, kommentierte der Fernsehsender „Mega TV“. Gleichzeitig aber müsse die Regierung beweisen, dass sie es mit der tiefgreifenden Umwälzung des sozialen und politischen Systems ernst meine.

Griechenland befindet sich an einem Punkt der Umwälzung und die junge Generation ist in doppelter Hinsicht Opfer der Entwicklungen. Aufgewachsen in einer wenig hinterfragten und noch sehr jungen Konsumgesellschaft, haben ihre Eltern ihnen vorgelebt, dass man sich am Gemeinwesen vorbeimogeln muss, um weiterzukommen. Genau das prangern sie heute an. Doch für eine grundlegende Reformierung der Strukturen werden gerade sie, die auf einen ohnehin schwierigen Arbeitsmarkt drängen, auf die gewohnten Nischen und Sonderregelungen verzichten müssen.

Die internationale Krise tut ihr Übriges, sodass sich bei den Schülern, den vielen jungen Demonstranten am vergangenen Wochenende Orientierungslosigkeit und Angst breitmachen – Angst, dass der Druck, dem sie im Schul- und Schattenschulsystem ausgesetzt sind, auch in einer transparenteren Gesellschaft kein gesichertes Leben mehr garantiert.

Dionysis Karageorgiou will sich dennoch nicht unterkriegen lassen. „Wir machen eben alles ein bisschen später – Karriere, Familie, wird schon werden. Nein, ich habe keine Depression, ich habe keine Depression, ich habe keine Depression.“ Es soll witzig klingen, tut es aber überhaupt nicht.

HINTERGRUND

Die griechische Polizei hat seit einem Jahr mit einer Gewaltwelle zu kämpfen, die sie nicht in den Griff bekommt. Fast wöchentlich detonieren Bomben vor Polizeiwachstuben, Unternehmen und Banken. Als Täter werden meist linksextreme Gruppen vermutet.
Am Anfang der Gewaltwelle stand die Erschießung des 15-jährigen Schülers Alexandros Grigoropoulos im Athener Stadtteil Exarchia vor einem Jahr. Es folgten damals wochenlange Randale, in Athen wurden dabei ganze Straßenzüge verwüstet. Die Polizei wirkte überfordert und hilflos, schritt oft gar nicht gegen die Randalierer ein und sah den Verwüstungen tatenlos zu.

Rund um den Jahrestag des Todes von Alexandros Grigoropoulos gab es erneut Demonstrationen und Ausschreitungen mit mehreren Verletzten, allein in Athen und Thessaloniki wurden 280 Randalierer vorübergehend festgenommen. Zahlreiche Gewalttäter konnten sich aber in den Universitäten verstecken, auf deren Gelände die Polizei nicht vordringen darf, es sei denn auf ausdrückliche Bitte des Rektors.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2009)

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