"Tee-Knigge" : Japanische Gesellschaftsspiele

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Tee trinken ist in Japan ein stilvoller Zeitvertreib mit vielen Fallen und hohem Bildungsanspruch. Nichts wird bei der Teezeremonie dem Zufall überlassen, die einem komplizierten Regelwerk folgt: Ein "Tee-Knigge" für Anfänger.

Man hätte gewarnt sein müssen. Aber welcher Europäer denkt bei Tee an Stress, Training und Etikette. Also schlendern wir unbekümmert durch die ruhigen alten Gassen von Kyoto zum Vormittagstee im Haus Urasenke, immerhin wissend, dass dies eine berühmte Teeschule ist. Wir folgen Schülern in klosterähnlichen Gewändern durch den Garten und die schmalen Gänge des schlichten Holzgebäudes. Da uns beiden Gaijins – also Menschen aus der Fremde – das anstrengende Sitzen auf Tatamimatten nicht zugemutet wird, nehmen wir auf niedrigen Höckerchen an einem flachen Tisch Platz. Vis-à-vis sitzt der Meister, der mit ernstem Gesicht und gemessener Langsamkeit mit seinen Utensilien hantiert.

Die Süßigkeit, die uns ein Lehrling serviert, lehnen wir dankend ab, wir kommen ja gerade vom Frühstück. Der junge Mann räumt sichtlich verunsichert die Teller ab. Der Meister scheint die Disharmonie zu übersehen. Ungerührt bereitet er auf höchst umständliche Weise Tee zu, die uns ein weiterer Novize mit tiefen Verbeugungen auf den Tisch stellt. Wir nehmen einen Schluck von dem starken grünen Gebräu und bejahen enthusiastisch die Frage, ob uns das fremdartige Getränk schmeckt.

Später steigt er doch etwas bitter hoch. Hatten wir vergessen, wie ein japanisches Magazin sich süffisant über die frühere US-Präsidentengattin Laura Bush ausließ? Sie brachte bei einer zeremoniellen Schale Matcha ihre Begeisterung mit heftigem Augenrollen zum Ausdruck und „verpasste der Teezeremonie eine neue Dimension“. Japaner, so die Botschaft, würden nie solche unpassenden Faxen machen.

Bitte nichts ablehnen. Im Nachhinein, wenn Teeschülerin Mariko Nakajima über den „Tee-Knigge“ aufklärt, wird ohnehin vieles verständlicher. „Etwas ablehnen darf man niemals, es ist eine grobe Beleidigung für den Gastgeber.“

Ein Japaner lässt bei einer Teeeinladung nicht einmal einen Krümel zurück. Selbst einen Kirschkern, der versehentlich nicht entfernt wurde, steckt ein wissender Gast diskret ein. „Wir tragen im Kimono immer eine kleine Schachtel oder einen Beutel im Ärmel“, lehrt Frau Nakajima. Ein „richtiger“ Gast kommt ohnehin nicht einfach zum Tee. Er ist durchtrainiert.

Übungsstunde im Nachgang bei Frau Nakajima. Der Teller mit Süßigkeiten, die stets vor dem Tee gereicht werden, steht an der Borte der Tatamimatten, die als Grenze zwischen Gast und Gastgeber fungiert. Mit einer tiefen Verbeugung formt der Besucher die Hände auf dem Reisstrohbelag zu einem Dreieck und hebt das Geschirr in sein Terrain.

Der Bambuslöffel, beim Servieren auf der rechten Seite, wird nach dem Verzehr akkurat links auf den Teller gelegt, die Teeschale zweimal gedreht. „Der Gastgeber stellt die schönste Seite vor dir auf und erweist dadurch seine Ehrerbietung.“ Aus Bescheidenheit wendet der Gast die Schale ebenfalls und erwidert damit die Geste.

Zur Grundausstattung für den Teegast gehört auch ein spezielles Papier, mit dem die Teeschale gereinigt wird, sodass sie auf dem ebenfalls mitgebrachten Seidentuch ausgiebig bewundert werden kann, was ebenfalls zu den Spielregeln zählt. Anders als in Europa wird in Japan von einem Gast erwartet, dass er das Gefäß wendet und mit wohlgesetzten Worten fachkundige Kommentare zum Urheber des Markenzeichens und zur Güte der Keramik abgibt. Wenigstens das haben wir getan, wenn auch eher zufällig.

Jedes Detail sitzt, aber nichts darf zufällig sein. Das Geschirr, die Dekoration hat der Gastgeber nur für diesen Tag und diese Party arrangiert, um die Unwiederbringlichkeit zu feiern. Der größte Stress einer Teezeremonie ist die Vorbereitung, sagt Teeschülerin Nakajima. Jedes einzelne Detail muss genau überlegt, zur Saison, zum Anlass und zu den Besuchern passen. Die Gäste revanchieren sich, indem sie nach jedem Gerät und Gegenstand fragen und diese mit Ehrfurcht bewundern. Es bedarf einer erheblichen Bildung, hier mitreden zu können.

„Die einfache Zubereitung einer Schale Tee, sie in Dankbarkeit entgegenzunehmen, das ist die Grundlage eines Lebensweges, den man ,Chado‘ Teeweg, nennt“, definierte Sen Soshitsu XV., der Vater des heutigen Großmeisters, den tieferen Sinn der Übung. Der Mensch soll der „Ruhe seines eigenen Geistes gewahr werden, sich sammeln, zu einem harmonischen Verhältnis mit Natur und Kosmos gelangen und gleichzeitig ein soziales Miteinander auf hohem Niveau pflegen“. Das klingt nicht nur anspruchsvoll, das ist es.

Eine echte Teezeremonie dauert bis zu vier Stunden und erfordert das unbedingte Beherrschen der Etikette, Disziplin und Konzentration. Bei einer formellen Teeveranstaltung kennen die bis zu fünf geladenen Gäste das komplizierte Regelwerk. Sie versammeln sich 15Minuten vor der festgesetzten Zeit in einem Warteraum, ziehen nach einem Signal – ein kleiner Gong oder der Duft einer Räucherkerze – über einen Pfad aus Trittsteinen in den Garten.

Nacheinander rutschen die Gäste auf Knien und tief gebückt durch einen Holzeingang, der in der Regel nur 60 mal 65Zentimeter groß ist. Diese Tücke wurde in Zeiten ersonnen, als sich Japans Provinzfürsten erbitterte Kriege lieferten. Auf diese Weise waren selbst die stolzesten Militärs gezwungen, ihre Waffen vor dem Eingang abzulegen und in den Raum mit einer tiefen Verbeugung zu rutschen.

Ein heiliger Ort. Politische Attentate oder heimtückische Morde, keine seltene Erscheinung in Japans Geschichte, fanden nie in einem Teehaus statt. Das „Chashitsu“, die schmucklose Laube, gilt als fast heiliger Ort abseits der geschäftigen Welt, in dem Standesunterschiede idealerweise aufgehoben sein sollten.

Gleichwohl dürfte jedem Teilnehmer seine Stellung in diesem Spiel auf engem Raum bekannt sein. Schon in der Einladung sind Platzierung und Ehrengast festgelegt. In dieser Hierarchie bewundern die Gäste mit tiefen Verbeugungen die Bildnische mit Kalligrafie oder Tuschmalerei, die kostbare Dose mit Räucherwerk. Erst wenn die Gruppe die zugewiesenen Plätze im Fersensitz eingenommen hat, erscheint der Gastgeber.

Die Teeparty beginnt mit einem Essen, denn starken Tee, sagen die Kenner, solle man nicht auf leeren Magen trinken. Nach dem Ritual der Reinigung des Essgeräts legen die Gäste ihre Stäbchen möglichst im selben Augenblick auf die Lacktabletts ab und begeben sich erneut auf eine Wartebank. Der Meister dekoriert inzwischen um, ersetzt die Kalligrafie durch eine Vase mit meist nur einer, in jedem Fall „leisen“ Blume wie einer Kamelie, legt weitere Geräte – ein Deckelgefäß aus Keramik und die in einen kostbaren Seidenbeutel gehüllte Teedose – in einer exakt festgelegten Ordnung auf die Bodenmatten.

Nicht hastig, nicht flüchtig. In die sorgfältig gereinigte Schale füllt er mit dem Bambuslöffel etwas Teepulver, gießt mit dem Bambusschöpfer heißes Wasser auf und schlägt die grüne Flüssigkeit mit dem Bambusbesen zu Schaum. Jede Handbewegung sitzt.

Teemeister üben meist mehr als zehn Jahre, bis sie eine gewisse Perfektion erreichen. Schon die alten Meister forderten: „Wenn ihr einen Gegenstand aus der Hand legt, um den nächsten aufzunehmen, dann sollte dies in einem Geiste geschehen, als würdet ihr euch von einem geliebten Menschen trennen.“ Mit einem zögernden Bedauern, nicht hastig, nicht flüchtig, aber auch nicht so theatralisch, dass es peinlich wirkt.

Die Vorstellung, der die Gäste schweigend zuschauen, mündet in einem grünen Mus, das ihnen in nur einer Schale serviert wird. Diese „Chawan“ wandert von Gast zu Gast. Jeder nimmt zwei bis drei kleine Schlucke zu sich, reinigt den Rand mit kleinen Papierblättern und reicht das Gefäß formvollendet weiter. Wie in Zenklöstern soll damit ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. „Es ist eine ganz besondere Stimmung. Du wirst ganz ruhig, sogar ein bisschen entrückt“, sagt Frau Nakajima.

Politiker, Industriebosse oder Künstler treffen sich zu dieser Symbiose der Veredlung, wenn sie etwas feiern, einen besonderen Morgen genießen oder den vollen Mond bestaunen wollen. Die Teezeremonie ist ein geselliger und zugleich höchst stilvoller Zeitvertreib, ein Hobby der High Society und ein Statussymbol für wohlhabende Hausfrauen. Und sie ist ein japanisches Gesamtkunstwerk. Alles, was schön ist in Japan, gehört zu diesem Gesellschaftsspiel. Der Garten, die Architektur, die Kalligrafie und die Tuschmalerei, das Blumenarrangement, die Werke der Lackkünstler, der Bambusschnitzer und der Keramikmeister. Mit seiner Ästhetik hat der Teeweg viele Kunstformen nachhaltig beeinflusst. Japaner schwören darauf, dass der subtile Kult um den Tee Wunder für die Seele bewirkt und Kraft für den Alltag gibt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2009)

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