Ukraine: Odessas verlassene Kinder

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Sie leben in Abbruchhäusern oder in der Kanalisation: Kaum jemand kümmert sich um die Straßenkinder von Odessa.

Odessa. In einem sanften Bogen zieht sich die dunkelrote Linie an der Innenseite des Oberschenkels über die aschgraue Haut, macht einen kleinen Bogen, wechselt die Farbe in ein sehr dunkles Lila und endet in einem fast schwarzen Knoten. Dort hat sich Igor zuletzt seine schmutzigen Spritzen in die Leiste gesetzt, gefüllt mit einem Drogencocktail auf der Basis von billigen Amphetaminen und Essig, genannt „Batuschka“, „Väterchen“.

„Gibt es dafür eine Medizin?“, nuschelt der 18-Jährige kaum verständlich und sieht fragend zu Robert Gamble, der sich die Entzündung nachdenklich ansieht. Gamble schüttelt den Kopf. „Ich kann dir nicht helfen“, erklärt er dem Burschen, „dafür haben wir leider nichts dabei“. Es vergehen lange Sekunden, bis Igor den Satz verstanden hat, die Drogen haben ihm schwer zugesetzt. Selbst den eisigen Wind, der die Schneeflocken zwischen den Plattenbauten in diesem heruntergekommenen Viertel von Odessa umherwirbelt, scheint er nicht wahrzunehmen.

„Wie viele seid ihr dort unten?“, fragt Gamble und zeigt auf einen offenen Kanalisationsschacht. Igor überlegt eine kleine Ewigkeit. „Neun“, presst er undeutlich hervor. Das ist das Zeichen für Roman und Aleksander. In ihrem früheren Leben haben sie selbst auf der Straße gelebt, doch sie haben es geschafft und sind nun Sozialarbeiter.

Hände aus dem Dunkel

Die beiden gehen zu einem weißen Minibus. „Sozialpatrouille“ steht auf dem altersschwachen Gefährt. Roman reiht neun Plastikteller auf dem Boden vor sich auf, in die er vorsichtig dampfende Suppe schöpft. Dann tragen sie die Teller zu einem vergitterten Kellerfenster, eine schmutzige Hand streckt sich aus dem Dunkel und nimmt das Essen entgegen. Robert Gamble drückt Igor schließlich noch zwei Plastiksackerln, gefüllt mit Lebensmitteln und einigen Medikamenten, in die Arme und steigt mit seinen beiden Mitarbeitern wieder in den Bus. Ziel ist der Hafen von Odessa.

Seit drei Jahren kümmert sich der US-Amerikaner um die Straßenkinder in Odessa. „This child here“ heißt die von ihm ins Leben gerufene Organisation. „Nicht alle wollen unsere Hilfe“, sagt Gamble, manche hätten sich abgeschottet, er habe das inzwischen akzeptiert.

Diese Kinder seien aber nicht einsam, erzählt er. Im Gegensatz zu den erwachsenen Wohnsitzlosen würden sie sich zu kleinen Gruppen zusammenschließen. Die älteren Jugendlichen erfüllten die Rolle der Eltern und würden für die Jüngeren sorgen. „Im Gegenzug gehen die ganz Kleinen im Sommer betteln“, beschreibt Gamble dieses symbiotische System, „denn die bekommen von den Touristen viel mehr Geld“.

„Wir schlagen uns durch“

Wie viele Kinder in der Hafenstadt am Schwarzen Meer auf der Straße leben, ist nicht sicher. Sergej Kostin, Leiter der Hilfsorganisation „Way home“, schätzt, dass es im Moment etwa 700 sind. In der chaotischen Zeit Mitte der 90er-Jahre, als Armut und soziale Verwahrlosung allgegenwärtig waren, seien es über 5000 gewesen, sagt er.

Kostin und Gamble haben ihre Büros in einem notdürftig renovierten Haus in der Sofiejskaja-Straße eingerichtet. „Der Staat kümmert sich nur um Vollwaisen“, erklärt Kostin, andere seien sich selbst überlassen. Daher sind die Organisationen vor Ort auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, wie etwa vom Kinderhilfswerk Unicef, angewiesen. „Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden“, so Kostin, „wir haben aber gelernt, uns durchzuschlagen“.

Dann bremst der Bus und kommt vor einem zerfallenen Haus zum Stehen. Roman und Aleksander springen aus dem Wagen und gehen zielstrebig auf eine morsche Tür zu. Gamble folgt den beiden in ein Zimmer, unerträglicher Gestank liegt in der Luft.

Roman knipst eine Taschenlampe an. Erst jetzt sieht man den verdreckten Buben, der regungslos in einer Ecke steht. Die scheibenlosen Fenster sind wegen der Kälte mit Kartons abgeklebt. Auf zwei Betten türmen sich muffige Decken, dazwischen ein verfilztes Kuscheltier. Gamble sieht das Spielzeug und macht eine fragende Geste. „Wir wohnen hier zu viert, eines der beiden Mädchen ist schwanger“, erklärt der Bursch in der Ecke tonlos.

Meldet sich die Schwangere?

Gamble stockt. „Schwanger“, murmelt er und schüttelt kaum merklich den Kopf. Er ist hier, um zu helfen, und spult ein Programm wohldosierter Fragen ab: „Im wievielten Monat ist sie? Hat sie medizinische Versorgung?“ Viel ist von dem Burschen nicht zu erfahren, er möchte nur Brot und etwas zu trinken. Das schwangere Mädchen solle sich melden, sagt Robert Gamble. Der Bursche nickt und bedankt sich artig für das Brot.

Gamble weiß, das Mädchen wird nicht kommen. Schweigend geht er zurück zum Bus und lässt sich in den Sitz fallen. Tausende Male wurde er schon mit solchen Schicksalen konfrontiert, doch noch immer kann er nicht verstehen, wie ein junger Mensch sein Leben einfach so wegwerfen kann.

AUF EINEN BLICK

In der ukrainischen Hafenstadt Odessa (eine Million Einwohner) leben laut Schätzung von Hilfsorganisationen rund 700 Kinder auf der Straße. In der chaotischen Zeit Mitte der 1990er-Jahre, als Armut und soziale Verwahrlosung allgegenwärtig waren, dürfte es mehr als 5000 Straßenkinder in der Stadt am Schwarzen Meer gegeben haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2010)

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