Mali: „Mit 20 Kindern hast du gute Arbeit geleistet“

(c) ANNA MAYUMI KERBER
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Das westafrikanische Land verzeichnet ein enormes Bevölkerungswachstum und steuert zielsicher auf massive Probleme zu. In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Bevölkerung Malis vervierfacht.

Fünf seien wenig, zehn respektabel. „Mit 20 hast du richtig gute Arbeit geleistet“, sagt der Landwirt Bocoum. Mit Begeisterung spricht er über die Anzahl von Kindern einer Malierin. Statistisch gesehen bekommt jede Frau des westafrikanischen Staats sechs oder sieben Kinder – eine der höchsten Raten der Welt.

In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Bevölkerung Malis vervierfacht. Geschätzte 14 Millionen Menschen leben heute im Binnenstaat. „In der Sahelregion“ (zu der neben Mali auch etwa Senegal, Burkina Faso, Niger und Tschad gehören) „beobachten wir das größte Bevölkerungswachstum weltweit“, erläutert Carl Haub, Demograf am „Population Reference Bureau“ (PRB) in Washington.

Ändert sich nichts an der Geburtenrate, wird sich die Einwohnerzahl Malis bis 2035 verdreifachen, besagt auch der Report der Weltbank, die mit dem PRB zusammenarbeitet. Und selbst wenn eine Frau in Mali künftig im Durchschnitt nur mehr drei Kinder bekäme, sei eine Verdoppelung der Einwohnerzahl in diesem Zeitraum gewiss.

Geht man durch die sandigen Gassen Djennés im Herzen von Mali und schaut in die Innenhöfe der Lehmhäuser, fällt es leicht, diese Zahlen zu glauben. Familie Cissé etwa besteht aus dem Familienvater, drei Müttern und ihren je fünf, sieben und neun Kindern. Polygamie ist nichts Außergewöhnliches in dem muslimischen Land.

Im Haus gegenüber wohnt eine 35-köpfige Familie. Der Vater ist mit vier Frauen verheiratet, die von ihm vier, sieben, neun beziehungsweise zehn Kinder haben. Ganz offensichtlich sind noch mehr unterwegs, zwei der Frauen haben einen eindeutig gewölbten Bauch. In den benachbarten Haushalten herrschen ähnliche Verhältnisse. Auch Bocoum ist eines von 15 Kindern, die alle dieselben leiblichen Eltern haben.

Nahezu die Hälfte der Einwohner Malis ist unter 15. Das Land steht ganz unten auf dem Human Development Index, der aus Variablen wie Bildung, Lebenserwartung, Alphabetisierung und Lebensstandard den Entwicklungsgrad eines Landes errechnet. Das Ausmaß der Probleme, auf die Länder wie Mali zusteuern, die zudem mit regelmäßigen Dürren und damit einhergehenden Lebensmittelengpässen konfrontiert sind, seien deshalb schwer vorauszusagen, meint Haub. Nicht nur die Grundversorgung sei problematisch, auch der derzeitige Bildungsrückstand sei bei einem solchen Wachstum nicht einzuholen, so das niederschmetternde Fazit von Experten.

Regierung sieht kein Problem

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Neben der hohen Geburtenziffer hat die sinkende Kindersterblichkeitsrate einen massiven Einfluss auf das explosive Bevölkerungswachstum. In Mali ist diese mit elf Prozent heute so niedrig wie noch nie. Gleichzeitig sorgt eine Verbesserung der medizinischen Versorgung für eine höhere Lebenserwartung.

Bocoums Vater ist längst verstorben, bei der 80-jährigen Mutter wohnt nur mehr eine seiner zehn Schwestern. Die anderen sind verheiratet und teils aus Djenné weggezogen. So auch drei seiner Brüder, die ihr Glück in der Hauptstadt versuchen. „Die Landwirtschaft, die wir hier betreiben, gibt nicht viel her“, meint Bocoum. Die Brüder hätten mehr gewollt, sie arbeiten nun als Lkw-Fahrer.

War Bamako vor gut 100 Jahren noch ein Fischerdorf mit etwa 3000 Einwohnern, leben heute rund 1,5 Millionen Menschen in der Hauptstadt. „Normalerweise führt Urbanisierung und Modernisierung eines Landes zum Wandel“, sagt der Demograf Haub. Der vielfach beobachtete Zyklus – sinkende Sterberate, niedrigere Kindersterblichkeit, höhere Einkommen, bessere Bildung und dann sinkende Kinderanzahl – sei in der Sahelregion bisher ausgeblieben.

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Ob ein Kurswechsel möglich ist, hänge stark von der Handlungsfähigkeit der Regierung ab. Mit einem schwachen, korruptionsanfälligen Verwaltungsapparat sei Mali für diese Herausforderung schlecht ausgestattet. „Zudem nimmt die Regierung die Bedrohung nicht ernst“, so der Demograf. Erst um die Jahrtausendwende habe man das Problem als solches überhaupt wahrgenommen.

Der entsprechende Bericht der Weltbank verweist auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund: „Viele afrikanische Führer assoziieren die Stärke ihres Landes immer noch mit der Einwohnerzahl. Manche betrachten Interventionen, die eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums zum Ziel haben, als kulturimperialistischen Eingriff von außen, gegen den Wunsch der Bevölkerung.“

Altersvorsorge und Statussymbol

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In Djenné legt man Wert auf zahlreichen Nachwuchs. „Wenn du genug Kinder hast, brauchst du keinen Finger mehr zu rühren“, erläutert Bocoum das Nirwana des gesellschaftlichen Diesseits. In ihrer Funktion als Altersvorsorge dienen Kinder als Statussymbol.

Auf moderne Verhütungsmethoden greifen hier die wenigsten zurück. Nur rund sechs Prozent der malischen Frauen verwenden Kondome oder die Pille. Haub bezweifelt, dass das enorme Tempo gedrosselt werden kann. „Die Wachstumsprognosen sind aus 2000. Zehn Jahre sind vergangen, und es hat sich nichts verändert.“

Presse Grafik

Bocoum plant seine Nachfolge bescheiden. Vier Frauen seien zu viel, meint der 31-Jährige. Mit seiner Verlobten will er nur ganz wenige Kinder – nämlich vier. „Das ist auch wirklich das Minimum hier“, fügt er augenzwinkernd hinzu.

DAS PROJEKT

Das Autorenduo Anna Mayumi Kerber und Niels Posthumusdurchquert auf dem Weg zur Fußball-WM im Juni in Südafrika Afrika von Marokko bis zum Kap der Guten Hoffnung; dort wollen die Vorarlbergerin und der Holländer bis zur WM sein. Ihre Berichte unter dem Motto „The Road to 2010“ erscheinen als Serie in der „Presse“.

www.theroadto2010.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2010)

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