Russland: Brandtragödie als politisches Symptom

(c) AP (Misha Japaridze)
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Mit täglich neuer Wucht zieht das Feuer Spuren der Verwüstung über das Land. Die Frage nach Verantwortung legt die Schwachstellen Russlands frei. Kreml-Treue und mangelnde Mündigkeit mussten zur Katastrophe führen.

Moskau. Mit täglich neuer Wucht zieht das Feuer Spuren der Verwüstung über das Land, und täglich tritt mehr und mehr zutage, dass Russland eine Tragödie nationalen Ausmaßes erleidet. 744.000 Hektar Wald sind bereits abgebrannt. In 14Regionen herrscht Ausnahmezustand. Am Mittwoch erhöhte sich die Zahl der Toten auf 48. Ganze 580Brandherde sind noch aktiv. Und am Mittwochmorgen erreichten die Brände den Moskauer Stadtrand. Im schwarzen, beißenden Rauch, der die Stadt überzog, verringerte sich die Sicht auf unter 300Meter. Autos fuhren mit Nebelscheinwerfern. Selbst gesunden Menschen wurde dringend vom Verlassen des Hauses abgeraten.

Da kein Ende der beispiellosen Hitzewelle zu sehen ist, brach Kremlchef Dmitrij Medwedjew nun seinen Urlaub ab. Er berief den Nationalen Sicherheitsrat ein und warf mit der ersten Entlassung von Militäroffizieren die Frage nach menschlichem Versagen auf. Am 29.Juli nämlich war eine Militärbasis nahe Moskau abgebrannt. Während das Verteidigungsministerium den Vorfall anfangs leugnete, sprach Medwedjew am Mittwoch von einer „verbrecherischen Fahrlässigkeit“. Nicht nur bei Verantwortlichen im Militär werde aufgeräumt, ließ er wissen. Auch die Arbeit der Provinzgouverneure und der Regierung werde geprüft, um daraus Schlüsse zu ziehen.

Schwachstellen im System

Schon ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Beamte wegen fahrlässiger Tötung, da Brandschutzmaßnahmen unterlassen wurden. Wie schon bei früheren Katastrophen legt die Frage nach Verantwortung auch im aktuellen Fall die Schwachstellen im politischen und gesellschaftlichen Gefüge Russlands frei. „Das Volk wird nicht fragen, ob Medwedjew und Putin ihre Beamten im Griff haben“, sagt Alexej Makarkin vom Moskauer Institut für politische Technologien: „Präsident und Premier werden von der Mehrheit als Retter gesehen.“ Wie schon früher richte sich der Hass des Volkes auf konkrete Beamte oder auf die üblichen Verhassten wie Oligarchen oder die USA.

In Wirklichkeit haben Wissenschaftler schon 2008 gewarnt, dass strukturelle Mängel im eigenen System eine Katastrophe nach ziehen könnten. Konkret geht es um die Reform des Forstsektors aus den Jahren 2006 bis 2007. Damals hat Moskau die Verantwortung für die Brandverhütung in den Wäldern an die Regionalregierungen übertragen. Weil diese aber finanzschwach waren, wie die Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ schreibt, seien Brandschutzmaßnahmen nur formal durchgeführt worden.

Dabei ist die Gefahr von Waldbränden in Russland nicht neu. Dass Russland dennoch so unvorbereitet wirke, hat laut Nikolai Zlobin vom Institut für globale Sicherheit in Washington mit gröberen Missständen zu tun. Wegen der im vergangenen Jahrzehnt errichteten autoritären Machtvertikale, die auf Korruption und Loyalität gegenüber dem Kreml, nicht jedoch auf einem Wahlmandat durch das Volk beruhe, zähle bei den regionalen Eliten der Schutz der Bevölkerung weniger als die Angst vor Moskau. Deshalb wurden Probleme und wachsende Gefahren vertuscht. Manchmal brennen daher ganze Dörfer nieder.

Wo bleibt Eigenverantwortung?

Als zweite Systemschwäche nennt Zlobin das unmündige Verhalten der Bürger selbst, die kaum eine zivilgesellschaftliche Eigenverantwortung – etwa in Form freiwilliger Feuerwehren – entwickelt haben und untätig auf Hilfe von oben warten. Täglich tauchen Meldungen auf, dass Spekulanten derzeit Häuser niederbrennen, um in den Genuss der staatlichen Wiederaufbaugelder zu kommen. „Die Leute halten sich an keine Regeln“, sagt Makarkin: „Es ist Sommer, und Barbecue ist in Russland heilig. Auch entgegen allen Warnungen wird überall im Wald auf offenem Feuer gebraten.“

Unmündigkeit und Entmündigung sei das Problem, so Makarkin. Und Zlobin resümiert: „Die autoritäre Machtvertikale hat in diesem Sommer ihre Ineffizienz offengelegt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2010)

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