Meere in 30 bis 40 Jahren leergefischt

Ausgefischt zuvor wurde viel
Ausgefischt zuvor wurde viel(c) AP (OBED ZILWA)
  • Drucken

143 Millionen Tonnen im Jahr waren es zuletzt, davon kamen 82 Millionen wild aus dem Meer. Laut Experten sind fast alle Bestände überfischt. Wenn wir so weiterfischen, hat es damit in 30 bis 40 Jahren ein Ende.

Gigantisch liegen sie zu Hunderten auf dem kalten Steinfußboden aufgereiht und warten auf Gebote der Händler. Gefroren oder frisch kommen die glänzenden Thunfische auf dem Tokioter Tsukiji-Fischmarkt in einem einzigartigen Spektakel unter den Hammer. Die Auktionen sind trotz der Herrgottsfrühe gegen fünf die Attraktion des weltgrößten Fischmarkts, der Käufern und Schaulustigen auch sonst alles bietet, was Ozeane, Flüsse und Seen hergeben.

Genießer und Köche aller Länder sind ob der Thuns, Dorsche, Makrelen, Garnelen, Tintenfische, Austern, Seeigel, Meeresschnecken und anderen für Binneneuropäer teils unvorstellbaren Geschöpfe entzückt. Etwa 500 Arten werden angeboten, fast 2500 Tonnen am Tag verkauft. Der Umsatz ist siebenmal größer als auf dem zweitgrößten Fischmarkt, dem „Rungis“ in Paris.

Mit all dem dürfte es aber in 30 bis 40 Jahren weitgehend vorbei sein: Hält die Intensität der Fischerei im Meer nämlich so wie jetzt an, würden bis dann, so warnen die meisten Experten, die Fischbestände in allen Ozeanen praktisch ausradiert sein; dafür würden in den Meeren massenhaft Algen und Quallen treiben, weil ihnen kein Fisch mehr nachstellt.

Hinter allem steht zuerst ein fundamentaler Irrtum über die Meere – daraus stammen gut 90 Prozent der wild gefangenen Fische: Nämlich, dass die Menge der Kreaturen darin, die man essen kann und möchte, unerschöpflich sei. Viele glaubten, die See sichere angesichts der begrenzten landwirtschaftlichen Nutzflächen auf dem Land die Ernährung der Welt für immer.

Meer, die Terra incognita. Dieser Irrtum ist eigentlich verständlich, denn die Meerestiefen waren bis weit ins 20.Jahrhundert, und sind es großteils noch heute, meist Terra incognita. Immerhin ist es leichter, Menschen ins All als auf den Tiefseeboden zu bringen, der im Marianengraben im Westpazifik auf die Maximaltiefe von an sich lächerlichen 11.034 Metern kommt – das ist etwa die Luftlinie vom Wiener Stephansdom zur SCS nach Vösendorf.

Im 20.Jahrhundert, speziell in dessen 50ern und 60ern, explodierte die Fangmenge: Seit 1950 vervierfachte sie sich. Damals waren es laut Welternährungsorganisation FAO 20 Millionen Tonnen; aktuellste Daten ergeben für 2006 schon 82 Mio. Tonnen. Gründe waren neue Fangtechniken, mehr und größere Schiffe, bessere Methoden für Vertrieb (Kühlung!) bzw. Konservierung, die industrielle Verwertung von Fisch zu Fischmehl und -öl als Tierfutter – und der wachsende Bedarf einer wachsenden Menschheit, und das nicht nur insgesamt, sondern auch pro Kopf (siehe Infokasten rechts).

Als der Dorsch verschwand. In den 60ern warnten Biologen erstmals lautstark, dass die Bestände bedroht seien (als Bestand gilt präzise das Vorkommen einer bestimmten Art in einem bestimmten Raum). Dann plötzlich geschah es: 1968 fing man im Nordostatlantik keine Heringe mehr. 1972 kollabierte der Sardellenfang vor Peru von 10,2 Mio. Tonnen auf vier Millionen. So blieb es für fünf Jahre, tausende Fischer verarmten. Weitere Bestände crashten.

Berühmt wurde der Dorschkollaps vor Neufundland (Grafik): Nach massiver Überfischung in den 60ern, vor allem in größeren Tiefen, brachen die Fänge um 1970 ein, erfingen sich etwas dank Schutzmaßnahmen Kanadas, etwa der Verhängung von Fangquoten für die Fischer – aber 1992 fielen die Fänge dennoch auf null. Der Dorsch war weg – und kam nicht mehr zurück.

2009 schätzten Forscher der University of British Columbia (Kanada) mit sehr komplexen Methoden die Masse aller Meeresfische – und kamen auf 0,8 bis zwei Milliarden Tonnen. Verglichen mit aktuellen Fangmengen holen wir also jährlich vier bis zehn Prozent der Fische heraus, die sich aber nicht im selben Maß vermehren. Tatsächlich beträgt die globale maritime Fischmenge nur noch fünf bis zehn Prozent jener von 1890. Große Tiere wie Thun- und Schwertfisch gingen um 90 Prozent zurück; in sehr stark befischten Regionen wie der Nordsee fiel die Menge großer Fische ab 16 Kilo seit 1890 auf ein (!) Prozent.

Forscher der Universität York (England) errechneten, dass heutige britische Fischer im Meer um die Inseln nur ein Viertel jener Menge fangen, die ihren Ahnen in Holzbooten des Jahres 1890 ins Netz ging. Und vom Aufwand in technisch-finanziell-energetischer Sicht her sei für den Fang von einem Kilo Fisch das 17-Fache von einst nötig.


80 Prozent überfischt. Laut FAO sind 80 Prozent der Bestände an ihre Grenzen und darüber überfischt: Man entnimmt zu viele und zu junge, nicht geschlechtsreife Tiere, was die Vermehrung bremst. Fangsteigerungen sind kaum möglich, eher droht Rückgang. Betroffen sind alle wichtigen Speisefische wie Hering, Sardelle, Thunfisch, Seelachs. Regional am stärksten überfischt sind Nordwestatlantik und -pazifik und Westlicher Indischer Ozean. Mancherorts stiegen seit 1970 die Fänge, etwa im Indischen Ozean und Südwestpazifik, dafür sank oder stagnierten sie anderswo, wie im Atlantik und Mittelmeer. Global stagnieren die Fänge seit zwei Jahrzehnten, laut FAO ist das Ende der Fahnenstange da: „Das maximale Fangpotenzial ist erreicht“, hält der aktuelle Bericht „State of World Fisheries and Aquaculture“ von 2009 fest. Fische man so weiter, drohten alle Bestände einzubrechen.

Dazu das Problem mit dem Beifang: Zur FAO-Fangmenge, die sicher untertrieben ist, da kaum ein Fischer seinen Fang exakt meldet (die Millionen kleiner Fischer in Asien, Afrika und Lateinamerika tun das meist gar nicht), ist mindestens ein Drittel zu addieren, das aus Getier wie Schildkröten, Vögeln und unvermarktbaren Fischen sowie aus solchen besteht, für die der Fischer keine Lizenz hat (Lizenzregelungen gibt es etwa in der EU). Der Beifang wird meist ins Meer gekippt, was er selten überlebt.

Fangschiffe für drei Planeten. Umweltschützer, FAO und EU-Kommission betonen, die globale Fangflotte sei zu groß: Es gibt mehr als zwei Millionen motorisierte Fischerboote, über 70 Prozent davon sind in Asien und 90 Prozent kleiner als zwölf Meter. In der EU sind ca. 86.000 registriert. 23.000 weltweit gelten als „industriell“. Es gebe Fangschiffe für drei Planeten, heißt es, laut FAO könnte man die Hälfte abwracken und hätte weiter dieselbe Fangmenge. Der größte Fischer ist China, wo 2006 samt Binnenfischerei 17 Mio. Tonnen gefangen wurden, gefolgt von Peru (sieben) und den USA (4,9); die EU kam auf 5,4 Millionen.

Die Überfischung, die durch Quotensysteme für Fischer, Fangverbote und Regeln etwa zur Mindestgröße der Netzmaschen kaum gebremst werden konnte, hat Folgen für Ökosysteme, sagt Georg Scattolin, Fischereiexperte des WWF Österreich. „Die Größe der gefangenen Fische sinkt. Im östlichen Mittelmeer gibt es mehr Tintenfisch, weil der Thunfisch, der ihn jagt, weg ist. Vor Neufundland sind nach dem Abgang des Dorsches die Hummer explodiert; die fressen aber Fischeier und Jungfische, der Dorsch also kommt nie mehr zurück.“

Rettungsboot Aquakultur? Dass Fischpreise nicht stärker steigen als die anderer Lebensmittel, liegt daran, dass die Fänge noch nicht stark sinken, sowie an der Aquakultur: Fischzucht in Binnen- und Küstengewässern. 2006 wurden so 52 Mio. Tonnen erzeugt, von dort stammt schon jeder zweite Fisch, sodass samt Binnenfischerei die Welterzeugung 143,6 Mio. Tonnen betrug. Aquakultur ist ausbaufähig, doch die FAO sieht schon einen Wachstumsrückgang. Auch sind die meisten Zuchtfische wie Lachs und Wels Raubfische, brauchen also Fisch und Fischmehl als Futter.

Die Händler auf dem Tsukiji-Markt lehnen Fangbegrenzungen ab. Für sie, die in dem Land leben, wo neben Island pro Kopf und Jahr am meisten Fisch (70 Kilo) gegessen wird, ist das ein Angriff auf Japans Kultur. Japans Ernährung fordere große Mengen Meeresfrüchte, es gehe um Identität. „Amerikaner und Europäer essen viel Fleisch, was wir halt nicht so mögen“, sagt Fischhändler Yoshiyuki Hoshiba – und zerteilt mit seinem Messer einen Riesenthunfisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.