Die vielen neuen Gesichter des Hungers

Die Essensmarken reichen nur bis zur Monatsmitte. Bei den Empfängern der Lebensmittelhilfe in Washington mischen sich Scham, Stolz und Zorn.

Vor dem Waschsalon an der Seventh Street haben sich George und seine Freunde komfortabel eingerichtet. Umringt von einigen jüngeren Müßiggängern, hält der Rentner, der auf einem Campingsessel hockt, auf dem Gehsteig Hof. Daneben, vor dem Eingang des „Laundromat“, thront ein beleibter Mann auf einem Barhocker – ein Afroamerikaner wie George und die anderen. Von früh bis spät harren sie oft hier aus, registrieren nonchalant, wer kommt und wer geht und was sich sonst so tut in der Nachbarschaft der Howard University in Washington.

Zu den Öffnungszeiten des privaten „Bread for the City“-Programms im frisch renovierten Backsteingebäude nebenan herrscht ein reges Kommen und Gehen. Meist sind es Frauen, alt wie jung, mit Babys und Kleinkindern im Schlepptau, die in die „Food Bank“ strömen, um sich und ihre Familien mit dem Notwendigsten an Lebensmitteln zu versorgen: Milch und Brot, Erdäpfel und Obst, Haferflocken und Dosenfutter.

Rundumservice.„Wann immer Bedarf besteht, gehe ich hin“, sagt einer verlegen, einsilbig wie die meisten. Bei einem anderen mischen sich Stolz, Scham und Zorn, dass er, seine Frau und die beiden kleinen Kinder auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Auch George zählt zu den Stammgästen. Nebenbei lockt ihn die medizinische Betreuung an, die die „Food Bank“ im Rahmen ihresRundumservice anbietet.

Über dem Portal des „Bread for the City“-Baus sind die Worte „Würde“ und „Respekt“ eingraviert, daneben prangt ein Banner: „Wir wachsen weiter.“ Damit ist die Ausweitung der Kapazitäten gemeint, die wiederum den steigenden Bedarf widerspiegelt. Die Zahl der Bedürftigen in den USA ist seit Beginn der Wirtschaftskrise vor knapp drei Jahren sprunghaft angestiegen: in Texas um eine halbe Million auf drei Millionen Menschen, in Florida und Kalifornien ebenfalls um rund 500.000 Menschen. In der Hauptstadt Washington kommt jeder Sechste – und jedes zweite Kind – ohne Almosen des Staates und karitative Organisationen nicht mehr über die Runden. Laut dem neulich vorgestellten Armutsbericht aus dem Vorjahr nehmen in den USA mehr als 41 Millionen Menschen Essensmarken in Anspruch.

Soziales Stigma.Isabel Sawhill, die Sozialexpertin der „Brookings Institution“ – eines Thinktanks – glaubt, dass die Talsohle noch nicht erreicht ist: „Es wird noch schlimmer werden.“ Kevin Cancannon, Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, pflichtet ihr bei: „Nie zu unseren Lebzeiten wurden unsere Programme so dringend gebraucht.“

1964 hat Präsident Lyndon B. Johnson im Zuge der Armutsbekämpfung Essensmarken eingeführt. Ronald Reagan brandmarkte in den 1980er-Jahren die „Sozialschmarotzer“ – und seither trägt die staatliche Lebensmittelhilfe, die per Kreditkarte in Supermärkten eingelöst wird, ein soziales Stigma.

Erst Michelle Obama und Jill Biden, die Frau des Vizepräsidenten, haben zu einem Meinungswandel beigetragen, als sie im Vorjahr in „Miriam's Kitchen“ – einer kirchlichen Suppenküche – einige Stunden bei der Verteilung von Lebensmitteln aushalfen. Ob an „Martha's Table“ oder im „DC Central Kitchen“: Tausende Freiwillige, ohne die die Organisationen nicht existieren könnten, tun es ihnen in Washington gleich.

Im Lager der privaten „Capital Area Food Bank“, der zentralen Verteilungsstelle in Brookland an der Peripherie Washingtons, stapeln sich die Waren, geschlichtet und geordnet. Gerade ist eine Truck-Ladung an Geflügel eingetroffen. „Die Firmen haben ihre Spenden zurückgestutzt, aber dafür springen Private ein. Die Nachfrage ist um 25 Prozent gestiegen“, berichtet die Kommunikationschefin Shamia Holloway. „Wir erleben ein neues Gesicht des Hungers. Wir sehen plötzlich Leute, von denen wir es nicht erwartet hätten. Ein Anwaltsehepaar, das früher selbst gespendet hat, dann aber arbeitslos geworden ist, kommt jetzt selbst, um sich Lebensmittel abzuholen. Es sind viele Kinder darunter, Studenten und Senioren, die vor der Wahl stehen: Essen oder Medikamente.“

Enervierende Bürokratie.Mitunter den ganzen Tag warten die 50 Antragssteller – fast ausnahmlos Schwarze und Hispanics – im Amt für „Human Department“ in der Taylor Street im Nordwesten der Stadt, bis sie an die Reihe kommen, ihr Formular für Essensmarken einzureichen. Es ist enervierendund erniedrigend.Ruhig, in sich versunken drücken sie sich auf den Plastiksesseln, bis ihre Nummer aufgerufen wird.

Währenddessen ist draußen Leotha Woodson mit seinem Van vorgefahren. Der Gründer von „Noah's Ark“, ein 69-jähriger ehemaliger Drucker, nennt sich selbst „Bruder“. „Wir kommen zu den Leuten hin, damit sie nicht anstehen müssen.“ Seine Ladefläche platzt vor plastikverpacktem Toastbrot. Eine Oma, aus der Karibik eingewandert, schnappt sich fast ein Dutzend, in jeder Hand fünf bis sechs Beutel.

Zögerlich greift auch Morena Melendez aus El Salvador zu. Sie lebt seit 20 Jahren in den USA, möchte aber am liebsten zurück in ihre Heimat. „Manchmal esse ich gar nichts, damit meine Kinder mehr haben“, sagt sie bedrückt. Mary-Jo holt die monatliche 70-Dollar-Ration an Essensmarken für ihren Mann ab, der an grauem Star leidet und arbeitsunfähig ist. „Besser als nichts. Ich verdiene elf Dollar in der Stunde, muss eine sechsköpfige Familie durchbringen und die Hypothek abzahlen.“ Anita Webster, „Bruder Leothas“ Assistentin, weiß: „Die Essensmarken sind nicht genug. Sie reichen gerade einmal für zwei Wochen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2010)

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