Verliert Mexiko den Kampf gegen Drogenkartelle?

(c) REUTERS (STRINGER/MEXICO)
  • Drucken

Organisiertes Verbrechen. Immer öfter fallen unbeteiligte Zivilisten den Massakern durch mächtige Rauschgiftsyndikate zum Opfer. Vergangenen Sonntag wurden 13 Insassen eines Rehabilitationszentrums massakriert.

Mexico City. Angesichts des eskalierenden Drogenkriegs hat sich die mexikanische Öffentlichkeit wohl oder übel an die täglichen Berichte über Exekutionen, Folterungen, Enthauptungen und Entführungen gewöhnen müssen. Was jedoch jüngst in den Städten Ciudad Juárez und Tijuana an der US-Grenze geschah, sandte eine Schockwelle durch das ganze Land.

Vergangenen Sonntag wurden in Tijuana 13 Insassen eines Drogen-Rehabilitationszentrums massakriert. Keine 48 Stunden zuvor war in Ciudad Juárez ein Killerkommando in ein Gebäude eingedrungen, in dem der Geburtstag eines Jugendlichen gefeiert wurde. Die Verbrecher mähten 14 Personen zwischen 13 und 30 Jahren nieder. Angeblich haben die Mörder nach dem Mitglied eines verfeindeten Kartells gesucht.

Seit Mexikos Präsident Felipe Calderón im Dezember 2006 ankündigte, das organisierte Verbrechen bedingungslos bekämpfen zu wollen, sind dem Gemetzel nahezu 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Bisher versuchte Calderón das Volk zu beruhigen, indem er darauf hinwies, dass die meisten Ermordeten selbst zu einem der sieben großen Drogensyndikate gehörten. Ihm zufolge sind die vielen Opfer eine Art Kollateralschaden: Je mehr Druck die Verbrecher vonseiten der Polizei und Armee spüren, desto erbarmungsloser wüte ihr Kampf um die Kontrolle von Territorien und Transportrouten; je mehr Drogenbosse verhaftet würden, umso häufiger komme es innerhalb des organisierten Verbrechens zu Nachfolgekämpfen.

Kommt die „Kolumbianisierung“?

Die These ist unter Experten umstritten. Fast einhellig vertreten sie die Meinung, die Kartelle seien zu reich und gut bewaffnet, um den Kampf gegen die notorisch korrupten Ordnungskräfte zu verlieren. Neben Verbrechern sterben auch Soldaten, Polizisten, Richter, und immer öfter Journalisten. Vor allem lokale Medien haben die Berichterstattung über den Drogenkrieg weitgehend eingestellt, aus Furcht, ihre Angestellten könnten ermordet werden. Die jüngsten Gemetzel beweisen, dass zunehmend auch unbeteiligte Zivilisten ins Visier der Killerkommandos geraten.

Gegenwärtig ist in vielen Kommentaren von einer „Kolumbianisierung“ des Drogenkriegs die Rede – dies in Anspielung auf den kolumbianischen Kokainbaron Pablo Escobar, der sein Land Ende der 1980er-Jahre mit Terroranschlägen überzog. Diese Verbrechen waren politisch motiviert: Escobar bekämpfte ein Gesetz, das es dem Staat erlaubte, verhaftete Bosse an die USA auszuliefern. Den heutigen mexikanischen Kartellen geht es aber darum, ein Klima der Angst zu schüren und die Machtlosigkeit des Staates zu demonstrieren.

Auch wenn sie dabei die Schwelle zum eigentlichen Narco-Terrorismus (den systematischen Versuchen der Beeinflussung der Politik durch Gewalt von Drogenbanden) noch nicht überschritten haben, begehen sie immer häufiger Verbrechen, die einer neuen Eskalationsstufe zuzurechnen sind. So ist es seit Anfang 2010 zu sechs Massakern an unbeteiligten Zivilisten gekommen, die sich in öffentlichen oder privaten Gebäuden aufhielten.

Verhöhnung der Polizei

Im Juli erschossen Killer den Arzt Rodolfo Torre Cantú, der beste Chancen hatte, zum Gouverneur des Staats Tamaulipas gewählt zu werden. In der Industriestadt Monterrey verhöhnen Drogenbanden die Staatsgewalt durch „Narco-Blockaden“: Dabei zerren Bewaffnete andere Verkehrsteilnehmer aus ihren Autos, um mit den erbeuteten Fahrzeugen wichtige Durchgangsstraßen zu blockieren und den Verkehr kollabieren zu lassen.

Wie wird der Drogenkrieg enden? Es zeichnen sich drei Szenarien ab, die man aus der Sicht des Staates mit Sieg, Unentschieden oder Niederlage umschreiben könnte. Das Szenario „Sieg“ sähe so aus: Der Staat setzt weiter auf massive Polizei- und Armeeeinsätze, wobei es ihm irgendwann gelingen wird, die Macht der Kartelle einzudämmen oder zu brechen. Dazu wäre aber Hilfe aus den USA nötig, und die Zahl der Toten würde zumindest kurzfristig weiter steigen.

Wobei am wenigsten Blut fließt

Das Szenario „Unentschieden“ liefe auf eine Art Stillhalteabkommen zwischen Regierung und organisiertem Verbrechen hinaus. Faktisch wurde ein solcher Modus Vivendi unter der bis 2000 regierenden Partei PRI von beiden Seiten befolgt. Das Szenario „Niederlage“ bedeutete den völligen Zusammenbruch der staatlichen Autorität.

In zwei Jahren finden in Mexiko Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, bei denen die PRI gute Chancen hat, sich hinaufzuschwingen. Das Szenario „Unentschieden“ erscheint deshalb als die wahrscheinlichste Lösung – rechtsstaatlich bedenklich, aber dabei fließt am wenigsten Blut.

Auf einen Blick

Im Dezember 2006 hat Mexikos Präsident Felipe Calderón angekündigt, die Drogenkartelle bedingungslos bekämpfen zu wollen. Seither sind dem Gemetzel nahezu 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Allein im laufenden Jahr beträgt die Zahl der Toten bisher 8619. Seit Jahresanfang verübten Drogenbanden sechs Massaker an unbeteiligten Zivilisten, die sich in privaten sowie öffentlichen Gebäuden – etwa Bars, Restaurants und Drogenentzugskliniken – aufhielten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.