Die Zukunft gehört dem Homo urbanus

Zukunft gehoert Homo urbanus
Zukunft gehoert Homo urbanus(c) APA (ANDREAS TROESCHER)
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Im Jahr 2030 werden fünf Milliarden Menschen in Ballungszentren wohnen, heute sind es 3,3 Milliarden. Städte sind das Problem - und die Lösung. Die Folgen der Urbanisierung für unsere Gesellschaften sind revolutionär.

Vor ein paar Jahren waren hier nur Felder und Bäume. Und jetzt? Callcenter-Büros, Banken, Versicherungen, Mobiltelefonfirmen, Marktforschungsunternehmen und Softdrinkhersteller.

Die Stadt Gurgaon liegt 30Kilometer südlich der indischen Hauptstadt Delhi und ist mit der Linie2 der neuen Metro in 45Minuten einfach zu erreichen. Die Stadt ist entstanden, weil die gut gebildeten Büroarbeiter Verkehrschaos, Lärm und Luftverschmutzung der Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole Delhi hinter sich lassen und in angenehmer Campus-Atmosphäre arbeiten wollten. Die Stadt wächst schnell: In den 90er-Jahren war Gurgaon nicht viel mehr als ein Dorf, heute zählt man dort 600.000Einwohner. Gurgaon ist kein Einzelfall: In Indien werden in den nächsten zwei Jahrzehnten 275Millionen Menschen in die Städte ziehen.


In China? Go West! Auch in China schießen die Städte regelrecht aus dem Boden: Zhengzhou liegt mitten in China und ist mit 4,5Millionen Einwohnern so groß wie Wien und Rom zusammen. Wohl nur China-Kenner haben je von Zhengzhou, Hauptstadt von Henan, gehört. Ein Wald von Baukränen versperrt die Sicht, Büro- und Appartementtürme vermehren sich – ein Gebiet halb so groß wie Frankfurt am Main soll bald verbaut werden.

„Go West“ heißt die Devise, die Regierung will nach den Küstengebieten nun das Landesinnere entwickeln. Zhengzhou soll ein regionales Wirtschaftszentrum werden und konkurriert dabei mit der 5,5-Millionen-Einwohner-Stadt Wuhan in der Provinz Hubei, der Vier-Millionen-Stadt Xian (bekannt durch die Terrakotta-Armee) und der Zehn-Millionen-Einwohner-Hauptstadt von Sichuan, Chengdu.

Doch das ist alles nichts gegen den kometenhaften Aufstieg von Chongqing am Jangtsekiang. Die Fläche des Administrativgebiets der direkt der Zentralverwaltung unterstellten Stadt ist so groß wie Österreich, die Einwohnerzahl wird mit 28,5Millionen angegeben. Chongqing ist die größte Stadt Chinas, bis 2025 wird das Reich der Mitte 15Superstädte mit einer Durchschnittsbevölkerung von je 25Millionen Einwohner haben.

Was in Indien und China, Bangladesch und Indonesien, aber auch Nigeria und Brasilien vor sich geht, ist eine der tiefgreifendsten Entwicklungen unserer Zeit: radikale, rasante Urbanisierung. Erstmals in der Geschichte des Planeten lebt heute die Mehrzahl der Menschen in Städten, der Homo urbanus hat den Homo sapiens abgelöst. Das UN-Programm für menschliche Siedlungen (Habitat) prognostiziert, dass die städtische Bevölkerung von 3,3Milliarden bis 2030 auf fünf Milliarden anwachsen wird – drei von fünf Erdenbewohnern werden dann in Städten leben.

Die Städte in den Entwicklungsländern sind in den vergangenen Jahren um rund drei Millionen Menschen pro Woche angewachsen. Das ist einmal Wien plus Köln plus Graz als Zugabe – pro Woche, wohlgemerkt.

Doug Sanders, Autor des im September 2010 erschienenen Buches „Arrival Cities“, warnt davor, die Folgen der raschen Urbanisierung zu unterschätzen: „Wenn wir die Folgen dieser großen Wanderung als Hintergrundrauschen abtun oder als Schicksal, das nur die anderen betrifft, begeben wir uns in große Gefahr.“

Denn einige Aspekte der Folgen dieser großen Wanderung würden uns bereits heute betreffen: die Spannungen wegen der Immigration in den USA, Europa oder Australien.

Metropolen des Weltmarkts. Der Zug vom Land in die Stadt wird allerdings die letzte große Wanderung dieser Größenordnung sein: Denn die Veränderungen, die das Stadtleben für das Familienleben mit sich bringt – von der Großfamilie zum Einkindhaushalt – werde dem bisherigen Leitmotiv der Menschheitsgeschichte, dem Bevölkerungswachstum, ein jähes Ende setzen, schreibt Saunders.

Die moderne Wirtschaft ist getrieben von den Metropolen des Weltmarkts, ein dichtes Netz von Handel und Wandel umspannt den Globus. Mobiltelefone, Flachbildfernseher und Laptops werden in Shenzhen, Dongguan oder Guangzhou produziert, die Güter werden dann in Containerschiffen, die in Geoje (Südkorea), Nagasaki (Japan) oder auf der Insel Changxing (China) zusammengeschweißt wurden, um den Erdball geschickt. Die Finanztransaktionen, die diesen Handel begleiten, werden wiederum in New York, Hong Kong, Singapur, Seoul, Tokio, London, Paris und Frankfurt abgewickelt.

Der Konsum treibt den Handel an, es entstehen weitere Arbeitsplätze in den Städten, wodurch die Zahl der weiteren potenziellen Konsumenten ansteigt. Das ist der Grund, warum Menschen vom Land in die Städte ziehen: Sie können dort mehr Geld verdienen als mit Arbeit auf einem Bauernhof.

Die Folge: Immer weniger Menschen arbeiten in der Landwirtschaft, immer mehr arbeiten in der Stadt. Die Stadt verheißt Freiheit und ein besseres Leben. Die Zahl der Megacitys ist von nur zwei im Jahr 1950 auf drei im Jahr 1975 und 19 bis zum Jahr 2007 angewachsen. Bis 2025 wird es wohl 27Megastädte (das sind Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern) auf unserem Planeten geben. Doch das Wachstum der Megacitys ist nicht die ganze Geschichte.

Das Wachstum der kleinen Städte. David C. Michael ist einer der führenden Köpfe im Pekinger Büro des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG). Beim World Economic Forum in Tianjin, China, präsentierte er der „Presse am Sonntag“ die BCG-Studie „Winning in Emerging Market Cities“. BCG hat herausgefunden, dass sich die wirtschaftliche Dynamik in Entwicklungsländern in Städte mit weniger als 500.000Einwohnern verlagert. Für Unternehmen bedeutet das, dass es nicht mehr länger genügt, in Shanghai, Peking, Bombay (Mumbai) und Delhi präsent zu sein, sondern dass man in mindestens 1000Städten vor Ort sein muss, um dort vom Wachstum zu profitieren.

Für die Städte seien die Herausforderungen enorm, sagt der Ökonom Michael. „Für die Stadtverwaltungen Chinas stand bisher im Vordergrund, ein attraktives Umfeld für die Industrie zu bieten. Aber sind diese Städte auch attraktiv für die Menschen, die darin leben? Das schmutzige Bruttosozialprodukt einer Stadt muss grünem Bruttosozialprodukt weichen, die Stadtverwaltungen müssen erkennen, dass sich etwa der Dienstleistungssektor – Tourismus, Bildung, Gesundheit – nicht entwickeln kann, wenn es in einer Stadt 300Tage im Jahr Smog gibt.“

Ein Netzwerk an globalen Dörfern.Parag Khanna, ein junger Intellektueller der US-Denkfabrik New America Foundation und Autor des Buches „How to Run the World“, schrieb in der Septemberausgabe des Magazins „Foreign Policy“, dass das 21.Jahrhundert nicht von Amerika oder China, Brasilien oder Indien dominiert werde, sondern von Städten. „Diese neue Welt ist kein globales Dorf, sondern ein Netzwerk aus verschiedenen Dörfern“, schreibt er.

Nur 100Städte würden insgesamt 30Prozent der Weltwirtschaft generieren und für fast die gesamte Innovation verantwortlich sein. Städte würden über Staatsgrenzen miteinander kooperieren, und der Einfluss der Nationalstaaten werde demgegenüber schwinden. „Es gibt bereits die ersten Allianzen zwischen diesen Städten, die an die Handels- und Militärmächte des späten Mittelalters erinnern, wie etwa die Hanse im Baltikum.“

Khanna nennt Beispiele: etwa die enge Partnerschaft zwischen Hamburg und Dubai in Sachen Schiffsverkehr und Biotechnologie oder die Allianz von Abu Dhabi und Singapur, die eine neue Wirtschaftsachse gegründet haben.

Was in unseren Städten passiert, sei für die Entwicklung der Welt bedeutsamer als alles andere. „Städte sind sowohl das Krebsgeschwür als auch die Basis für eine neue Netzwerkwelt, sowohl Virus als auch Antikörper. Vom Klimawandel zur Armut und sozialen Ungleichheit: Städte sind das Problem – und die Lösung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.01.2011)

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