Japan: Schweigen aus Angst vor Panik

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Kraftwerkbetreiber Tepco bestätigt erst jetzt die Kernschmelze in drei Reaktoren. Grund für die Verspätung war die Angst vor einer Massenpanik. Tokio hätte nicht evakuiert werden können.

Tokio/Wien. Wochenlang haben Arbeiter gegen die Havarie der Kühlung im AKW Fukushima I mit seinen sechs Reaktorblöcken gekämpft, um Kernschmelzen zu verhindern. Jetzt zeigt sich, dass die Brennstäbe gleich in mehreren Reaktoren höchstwahrscheinlich schon kurz nach dem Unglück vom 11. März geschmolzen sind.

Der japanische Energieriese Tepco präsentierte der Welt erst gestern, Dienstag, einen Super-GAU auf Raten – und räumte ein, dass es in drei Fukushima-Reaktoren zu einer Kernschmelze gekommen war. Lange hieß es, man habe die nukleare Katastrophe unter Kontrolle gehalten. Doch offenbar sollte die Desinformation lediglich eine Massenpanik verhindern.

Eine Evakuierung des 35 Millionen Einwohner zählenden Großraums um Tokio wäre allein schon organisatorisch nicht zu bewerkstelligen gewesen. Doch auch wirtschaftlich hätte ein derartiger Schritt das schwer angeschlagene Land in den Abgrund gestürzt. Die Schuldenlast liegt bereits jetzt bei mehr als 200 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das Pensionssystem steht vor dem Kollaps – ein Viertel der Bevölkerung ist älter als 65 Jahre. Die OECD empfahl erst kürzlich ein umfassendes Sparprogramm, verbunden mit drastischen Steuererhöhungen.

Am wirtschaftlichen Abgrund

Die Katastrophe kostet das Land zumindest 134 Mrd. Euro, möglicherweise auch deutlich mehr. Lieferprobleme belasten die Autoindustrie, vor allem das Aushängeschild Toyota, schwer. Man nehme den stockenden Konsum im eigenen Land dazu, und heraus kommt eine gefährliche Mischung, die Japan im ersten Quartal wieder in die Rezession hat schlittern lassen.

Aus welchen Gründen auch immer: Fakt ist, dass Tepco erst vor einigen Wochen zugegeben hat, dass es im Reaktor 1 zu einer partiellen Kernschmelze gekommen ist, und zwar fast sofort nach dem Beben. Und nun räumte Tepco ein, dass die Uranbrennstäbe auch in den Reaktoren 2 und 3 schmolzen. Die Reaktoren 4 bis 6 waren am 11. März nicht aktiv gewesen.

Im Klartext heißt das: Drei der sechs Reaktoren des AKWs sind rettungslos zerstört. Aufgrund der hohen Temperaturen, die zur Kernschmelze führen, muss sich flüssiges Brennstabmaterial ins Betonfundament gebrannt haben und könnte das Erdreich darunter erreicht haben. Tepco gab vorläufig zu, dass die Kernschmelze innerhalb der ersten 60 bis 100 Stunden nach dem Beben stattgefunden habe. Ein vorige Woche bekannt gewordenes Tepco-Gutachten bestätigte die frühere Vermutung unabhängiger Experten, dass im Reaktor 1 schon nach fünf Stunden die Kernschmelze eingesetzt hatte.

Das wiederum heißt aber auch, dass Japans Atomindustrie die Unwahrheit gesagt hat, als sie behauptet hat, die Reaktoren seien bebensicher und nur der Tsunami habe die Notsysteme geknackt.

AKW-Sperren möglich

Japans Industrieminister Banri Kaieda will nun ein unabhängiges Gremium einberufen, um aus der Untersuchung des Unfallhergangs Schlüsse zu ziehen. Dem Rat sollen auch Juristen angehören, was für ein Betriebsverbot für andere AKW sprechen könnte. Experten wiederum gehen davon aus, dass es zwei Jahre dauern kann, bis das Ausmaß der Strahlenbelastung endgültig zu bewerten ist.

Man muss auch angesichts der verwirrenden Informationspolitik des Energiekonzerns Tepco vermuten, dass die Schreckensmeldungen aus Fukushima noch lange nicht aufhören. Immer noch versuchen Arbeiter dort, Strahlenlecks zu schließen. Hinzu kommt die permanente Gefahr weiterer Erdbeben. Und selbst wenn diese schwächer wären als jenes vom März kann niemand sagen, ob die Bausubstanz nicht zu mürbe für neue Erschütterungen ist.

Erste Aufschlüsse erwartet man hierbei von Erkenntnissen zweier todesmutiger Techniker, die sich am vorigen Wochenende in den Reaktor 3 vorgewagt haben. Hier ist es neben der Kernschmelze auch zu einer Wasserstoffexplosion gekommen, die das Dach des Reaktors gesprengt hat. Diese Ruine will Tepco erst bis Jänner unter Kontrolle bringen.

Derweil erhöht sich außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone um das AKW die radioaktive Belastung weiter: Man hat 60 Kilometer nördlich eine Strahlenbelastung des Futtergrases für Milchkühe gefunden, die den Grenzwert um das Sechsfache übersteigt. Die Regierung hat die Tierhaltung hier nun verboten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2011)

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