Wenn zuletzt auch noch die Hoffnung stirbt

(c) REUTERS (GIAMPIERO SPOSITO)
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Zuerst glaubten die Bewohner der Insel Giglio, sie hätten ein Glas Wein zu viel getrunken. Doch dann sahen sie, dass wirklich ein Riesendampfer vor ihrem Hafen gestrandet war.

Die Nacht, in der alles anders wurde auf Giglio, beginnt für Giovanni Rum so wie immer. Er isst abend mit seiner Frau Giovanna, die Familie ist da, beide Söhne, die auf dem Festland leben, sind zu einem ihrer seltenen Besuche auf der Insel.

Um kurz nach zehn an jenem 13. Jänner überbringt der ältere Sohn Antonello die unglaubliche Nachricht dessen, was er vom Fenster aus gesehen hat. Noch jetzt, fünf Tage später, schnappt Giovanna Rum nach Luft, während die Sätze nur so aus ihr sprudeln.

Ein Schiff ist vor der Einfahrt zu dem Hafenort auf Felsen gelaufen, eine schwimmende Kleinstadt, die „Costa Concordia“. Sie liegt fast im 90-Grad-Winkel im Meer, wenige Meter von der Küste entfernt, mit mehr als 4000 Menschen an Bord. „Wir konnten es nicht glauben“, sagt Giovanni und streicht sich über das graue Haar, „eigentlich glauben wir es bis heute nicht“. Seit jener Nacht ist in Giglio nichts mehr, wie es war.

Die kleine toskanische Insel, im Sommer ein beliebter Ferienort, schläft in dieser Jahreszeit sonst ihren Winterschlaf. Kaum 600 Menschen leben im Winter in Giglio Porto, doch jetzt hat der Ort traurige Berühmtheit erlangt. Hunderte Journalisten aus aller Welt halten das malerische Dorf im Belagerungszustand. In der Ecke des pittoresken Hafenbeckens drängeln sich Feuerwehrleute und Polizeikräfte, dazu Höhlentaucher, Sprengexperten des Militärs und Spezialisten der Rotterdamer Firma „Smit“. Sie sollen Diesel aus dem Wrack pumpen, um eine Ölpest zu verhindern.

Daneben soll die Suche weitergehen nach jenen mehr als 20 Vermissten, die vielleicht irgendwo im Schiff sind. Die Hoffnung, dass noch einer lebt, ist praktisch null. „Wir tun unser Möglichstes“, versichert Alessandro Busonero, Sprecher der Marine. Aber: „Es gibt realistischerweise kaum noch eine Chance, jemanden zu retten“, sagt Giovanni Rum, und er weiß, wovon er redet. Sein Leben lang ist er zur See gefahren, auch auf Kreuzfahrtschiffen, hat als Funker und Koch die Welt bereist.

Die Solidarität der Italiener

Seit vier Jahren ist der Mann mit der rötlichen Brille und den blauen Augen in Pension, geht fischen und zieht Gemüse. In jener Unglücksnacht taten die Rums das, was alle taten auf Giglio: Sie halfen, spontan, mit jener überwältigenden Solidarität, die Italiener immer mobilisieren in solchen Fällen, egal, ob es um Erdbebenopfer oder Schiffbrüchige geht. Giovanni und seine Frau waren die ganze Nacht auf den Beinen, versorgten die Verzweifelten, die mit Booten oder sogar schwimmend an Land kamen. Man gab ihnen Decken, trockene Kleider, heiße Getränke, die Kirche und die Schulen wurden geöffnet, um die Gestrandeten unterzubringen.

„Die Treppe zur Kirche war voll mit Menschen, sie lagen auf Bänken und dem Boden“, erzählt Don Lorenzo Pasquotti, der Pfarrer, der erst vor drei Monaten aus Mailand kam. 400 Menschen drängelten sich in seiner Kirche, Kinder weinten, verstörte Menschen, die kein Wort Italienisch sprachen. Vor dem Altar ein paar Relikte von der Concordia: eine Schwimmweste, ein Helm, ein Tau, fast surreale Überreste einer Kreuzfahrt.

Ein surrealer Anblick

Surreal ist auch der Anblick des Schiffs. Wer vom Festland mit der Fähre übersetzt, sieht es von Weitem weiß in der Sonne leuchten. Je näher man kommt, umso unwirklicher erscheint es, dass dieser Riese mit dem gelben Schornstein und den hellblauen Decks seitlich im Wasser liegt, so nah am Ufer, dass es wirkt wie die Kulisse eines Actionfilms. Die Concordia ist ein Koloss von fast 300 Meter Länge, 25 Meter Breite und einer Masse von mehr als 51.000 Tonnen.

„Diese Schiffe sind zu groß“, glaubt Giuseppe Rum, der jüngere Bruder von Giovanni, der seit Langem nahe Livorno lebt. Am Abend des Unglücks rief ihn sein Bruder an, aufgeregt, gegen 23 Uhr. „Ich konnte das nicht glauben, was er sagte, ich dachte, vielleicht hat er ein Glas Wein zu viel getrunken“, sagt Giuseppe und schiebt seine Tweed-Kappe zurecht. Heute setzt er über nach Giglio, um sich die Lage anzusehen. „Unglaublich“, murmelt auch er, als sich die Fähre der Insel nähert. Auch Giuseppe fuhr sein Leben lang zur See, erst seit 1. Jänner ist er in Pension.

Als Ingenieur versteht er viel von der Statik dieser fahrenden Hochhäuser. Dass sie technisch sicher sind, bezweifelt er nicht, und sicher werde auch das Personal geschult für den Ernstfall. „Dennoch sieht der Ernstfall in den Übungen nie so aus wie hier, wo das Schiff so schräg liegt. Es ist sehr schwer, unter solchen Bedingungen in kurzer Zeit so viele Menschen zu retten.“

So weit hätte es nicht kommen müssen, sind die Rums überzeugt. „Schuld ist der Faktor Mensch“, sagt Giovanni, und das Profitstreben. „Es sollen immer mehr Menschen auf die Schiffe, das ist Irrsinn“, ergänzt Giuseppe. Man merkt, dass sie Brüder sind, sie sind einander verbunden, schwärmen vom Paradies ihrer Kindheit, als kaum Touristen nach Giglio kamen und sie die Wälder durchstreiften. Stolz holen sie Fotoalben hervor, zeigen Bilder ihrer Kinder und Enkel – und von sich selbst, als sie als schmucke junge Männer begannen, zur See zu fahren.

Sie wissen, dass Kreuzfahrtschiffe gern nah an die Küste steuern, um zu „grüßen“. Für das Verhalten von Kapitän Francesco Schettino, der zu nah an die Insel manövrierte und die Menschen an Bord im Stich ließ, fehlen ihnen die Worte. Wie so viele Italiener empört sie sein unstandesgemäßes Verhalten. Er wurde zum Symbol einer neuen italienischen Schande: „Er erfüllt das Klischee, das die Welt von uns Italienern hat“, schimpft Giuseppe, „leichtsinnig, ein Hallodri. Er hat nicht nur einen Berufsstand ruiniert sondern auch das Ansehen Italiens.“ Die Reedereien müssten viel stärker darauf achten, dass ihre Kapitäne auch psychologisch geschult würden.

Man mag sich nicht vorstellen, was in den Verzweifelten vorgeht, die auf die Insel kommen, um nach ihren Lieben zu suchen, die vermisst werden. So wie der junge Mann, der unter einer Decke auf einer Bank liegt. Mit seiner Mutter ist er aus Ungarn angereist, um nach seinem Bruder Sandor Feher zu suchen. Der war einer der Bordgeiger. „Wir müssen ihn finden“, flüstert der Bruder, geschüttelt vom Fieber einer Grippe. Zitternd hebt er ein Foto hoch, es zeigt einen jungen Mann mit schütterem Haar und einer Geige. „Bitte benachrichtigen Sie uns, wenn Sie etwas wissen“, steht dort auf Englisch und Italienisch, darunter Telefonnummern im fernen Ungarn.

Die Zettel der Vermissten

Überall in Giglio hängen solche Zettel. Von einem lächelt ein junger Mann mit Locken und Bart. Giuseppe Girolamo, Schlagzeuger auf der Concordia, seine Mutter Rosa hat die Suchanzeige für den 30-Jährigen aufgehängt, der seinen Platz in einem Boot für ein Kind freimachte. Seither ist er verschwunden. Auch eine US-amerikanische und eine peruanische Familie und ein Inder suchen an diesem Tag nach ihren Angehörigen.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Michele (Name geändert). Mit zwei Kollegen sitzt der junge Italiener auf einer Klippe hinter dem Wehrturm des Hafens, wo die Einsatzkräfte ihre Zentrale haben. In einer Garage stapeln sich Rucksäcke des Militärs, Taucheranzüge trocknen. Zuletzt stockten die Rettungsarbeiten, weil der Koloss tiefer ins Meer abzurutschen drohte. Michele, ein Taucher, darf eigentlich nichts sagen, aber dann erzählt er, wie unheimlich es ist, in den stockdunklen Bug hinunterzutauchen, wo die Raumverhältnisse nicht mehr stimmen. „Die Gänge sind nun fast senkrechte Schächte, überall treibt Mobiliar, es ist schwierig, sich zurechtzufinden.“

Schon seit Samstag sind auch die Experten der holländischen Firma Smit in Giglio, die das Öl absaugen und das Wrack aufrichten sollen; hartgesottene Männer, die 2001 schon das gesunkene russische U-Boot „Kursk“ geborgen haben. Nur Stunden nach dem Unglück wurden sie alarmiert und flogen sofort nach Italien.

Doch kein Wunder

„Unsere Rucksäcke stehen immer bereit“, sagt einer der Mitarbeiter in der Volksschule, die als Mensa dient. Im Hof ein Armeezelt, in einem Klassenzimmer hat die Firma ihre Zentrale eingerichtet. An den Wänden, die sonst Kinderbilder zieren, hängen Pläne des Schiffes. Noch laufen die Rettungsarbeiten, noch regiert das Prinzip Hoffnung. „Manchmal gibt es ja ein Wunder“, hofft Giovanna Rum. In ihren Augen stehen Tränen.

Für die Angehörigen von Sandor Feher starb die Hoffnung letztlich doch: Der junge Geiger ist als einer der bisher bestätigten elf Toten identifiziert worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2012)

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