Lateinamerika: Hinter Gittern im „fünften Höllenkreis“

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Die venezolanischen Haftanstalten gelten als die brutalsten in ganz Lateinamerika. Vergangenes Jahr starben 560 Menschen. Jahrelang hatte die Regierung das Thema Kriminalität verdrängt.

Caracas/Buenos aires. „Das ist das Eingangstor zum fünften Höllenkreis.“ Diese Beschreibung galt dem venezolanischen Strafvollzug, und sie stammt aus den 1990er-Jahren. Ausgesprochen hatte sie ein ehemaliger Insasse der Anstalt San Francisco de Yare, der dort zwei Jahre brummen musste. Dieser ehemalige Putschist heißt Hugo Chávez und ist mittlerweile seit 13 Jahren Präsident eines Landes, dessen Strafgefangene sich vorkommen müssen, als wären sie in Dante Alighieris siebentem, achtem oder neuntem Höllenkreis gelandet, dem Zentrum des Infernos der „Göttlichen Komödie“.

Doch die Wirklichkeit ist tragisch genug. In Venezuelas Strafanstalten kamen im Vorjahr 560 Menschen zu Tode, 1457 wurden innerhalb der Gefängnismauern verletzt. Diese Zahlen meldete Ende Jänner die Nichtregierungsorganisation Observatorio Venezolano de Prisiones, die sich seit 1958 mit der Situation des Strafvollzugs befasst.

Der Gefängnisbrand in Honduras am Dienstag mit über 355 Todesopfern hat die Aufmerksamkeit auf die Situation in lateinamerikanischen Gefängnissen gelenkt.

Seitdem die Regierung Chávez 1999 neue Regeln für den Strafvollzug erlassen hat, sind nach den Zählungen der Menschenrechtsgruppe 5066 Insassen gestorben, 14.460 trugen Verletzungen im Vollzug davon. „Kein Land der Welt hat vergleichbar hohe Zahlen vorzuweisen“, behauptet der Direktor der NGO, Humberto Prado. So verzeichnete etwa Brasilien im Vorjahr 125 Todesfälle im Strafvollzug, aber das Riesenland registriert über 500.000 Häftlinge, von den 85.000 Insassen kolumbianischer Anstalten starben nach offiziellen Angaben im Vorjahr 24.

Viele Insassen, wenige Zellen

Wichtigster Grund für die Gewalt hinter Gittern ist die Überbelegung: Die insgesamt 35 Gefängnisse sind ausgelegt für etwa 15.000 Personen, aber tatsächlich drängen sich mehr als 45.000 Insassen in den Zellen, über 60Prozent davon haben noch nicht einmal einen Richter gesehen.

Je voller die Gefängnisse wurden, desto schwächer wurde die staatliche Macht hinter den Mauern. 2002 verständigten sich mehrere Gangbosse auf eine Art Selbstverwaltung, die sich aus Zwangsbeiträgen der Mithäftlinge finanziert. Wie die Tageszeitung „El Universal“ berichtet, müssen die Gefangenen etwa 200 Dollar im Monat an ihren Boss abgeben, der im Gegenzug entscheidet, wo sie schlafen, was sie essen und wann sie aufs Klo gehen dürfen.

Im Juni gerieten zwei Gangs in der Anstalt RodeoI nahe Caracas aneinander. Bei dem Feuergefecht hinter Gittern starben 27 Insassen, 70 wurden verletzt. Als Nationalgardisten das Gebäude stürmten, wobei drei weitere Häftlinge zu Tode kamen, fanden sie Sturmgewehre, Handgranaten, ein Maschinengewehr und große Mengen Munition. Angesichts dieses Arsenals beschlossen die Behörden, den rebellierenden zweiten Gefängnisblock zu belagern. Einen Monat lang hielten die meuternden Insassen durch, ehe sie die Nationalgarde mit Tränengas aus dem Bau treiben konnte.

Nach diesem kaum noch zu vertuschenden Skandal bestimmte Hugo Chávez eine seiner getreuesten Weggefährtinnen zur Ministerin für den Strafvollzug. Iris Varela verkündete in ihrer ersten Amtswoche, dass sie 20.000 der 45.000 Häftlinge schnell entlassen wolle, weil diese ohnehin „zu Unrecht“ einsäßen. Ein halbes Jahr später sind die Gefängnisse immer noch so überfüllt wie vor der Ankündigung der Ministerin. Seit ihrem Amtsantritt im Juli seien 223 Häftlinge umgekommen, meldet das „Observatorio Venezolano de Prisiones“. NGOs wie diese, die den Strafvollzug in ihrem Lande kritisierten, seien „von der CIA finanziert“, entgegnet die Ministerin.

Jahrelang hatte die Regierung das Thema Kriminalität verdrängt und sich geweigert, Mordstatistiken zu veröffentlichen. Diese Politik wurde inzwischen geändert, Anfang Jänner räumte Innenminister Tareck El Aissami ein, dass 2011 mehr als 14.000 Menschen gewaltsam zu Tode kamen. Damit kommen auf 100.000 Einwohner 48 Tote, das ist der höchste Wert Südamerikas. Observatorio Venezolano de Violencia zählte im Vorjahr 19.336 Morde, was 67 Toten auf 100.000 Einwohner entspricht – der von den Vereinten Nationen errechnete globale Durchschnitt beläuft sich auf 6,9 pro 100.000.

Gesten vor Präsidentenwahl

Vor der Präsidentenwahl im Oktober möchte die Regierung nun Tatkraft demonstrieren. Anfang Jänner verkündete der Chef der Kriminalpolizei, José Humberto Ramírez, eine neue Strategie gegen die Mordwelle in der Metropole Caracas. In der dritten Jännerwoche nahmen neu formierte Ermittlungsgruppen tatsächlich 200 Verdächtige fest. Jeder der 35 Staatsanwälte bekam damit im Schnitt 5,7 Fälle mehr auf den ohnehin schon übervollen Tisch. Die Festgenommenen werden sich wohl jahrelang im „fünften Höllenkreis“ einrichten müssen. Aber vielleicht werden sie ja bald von Ministerin Varela nach Hause geschickt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2012)

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