„Konnten ihn nicht nur wegen Gesinnung verhaften“

(c) EPA (MAXPPP/NATHALIE SAINT AFFRE)
  • Drucken

Die Angriffstaktik der Raid-Truppe und Behörden, die den Attentäter seit Langem kannten, kommen unter Beschuss. Sie hätten trotz vieler Alarmsignale Merahs Gefährlichkeit gewaltig unterschätzt.

Wie die Regierung wollte am Freitag auch die Zeitung „Le Figaro“ befriedigt über den Ausgang der dramatischen Ereignisse von Toulouse einen Schlusspunkt setzen: „Mission accomplie“ (Mission erfüllt) stand groß auf Seite eins.

Am Vortag, gleich nach dem tödlichen Ausgang der Jagd auf den algerischstämmigen „Motorroller-Killer“ Mohamed Merah (23), der in den zwei Wochen zuvor sieben Menschen (darunter drei Kinder) in Toulouse und Montauban von einem Roller aus erschossen hatte, haben nicht nur Präsident Nicolas Sarkozy und sein Innenminister, sondern auch Oppositionelle wie der linke Präsidentschaftswerber François Hollande den Polizei- und Nachrichtendiensten Anerkennung ausgesprochen. Doch wenig später werden in den meisten Medien Fragen zum taktischen Vorgehen der Polizei vor Ort gestellt. Und ganz grundsätzlich wird Kritik an den Behörden laut, weil diese, vom Geheimdienst abwärts bis zur lokalen Polizei, offensichtlich trotz vieler Alarmsignale Merahs Gefährlichkeit gewaltig unterschätzt hätten.

Wieso kein Massiveinsatz von Tränengas?

Fachliche Kritik am Vorgehen der Polizei-Elitetruppe „Raid“, die Merahs Haus mehr als 30 Stunden belagert und dann gestürmt hatte, wobei dieser im Zuge einer wilden Schießerei aus dem Fenster sprang und im selben Moment von einem Scharfschützen getötet wurde, übt etwa Christian Prouteau: Er hat in den 1980ern die Gendarmerie-Spezialeinheit GIGN gegründet und selbst mehrere Einsätze geleitet. Er bemängelt an der Belagerung von Toulouse eine „gewisse Improvisation“, denn die Operation von Raid habe kein „klares taktisches Schema“ gehabt. Wie für viele Laien sei ihm unklar, wieso die angeblich besten Polizisten Frankreichs unfähig waren, einen einzelnen Mann lebend zu fassen.

Prouteau zufolge hätte man Tränengas hoch konzentriert einsetzen müssen: „Das hätte der keine fünf Minuten ausgehalten.“ Stattdessen haben die Belagerer den gefährlichen Islamisten mit Lärmgranaten noch aggressiver gemacht. „Man hat ihn nicht lebend geschnappt, das ist ein Misserfolg.“

Innenminister Guéant und Raid-Kommandant Amaury de Hauteclocque rechtfertigten den Einsatz mit Merahs extremer Gewalt und Entschlossenheit. „Es war das erste Mal, dass uns jemand angriff, obwohl wir ihn gerade angreifen.“ Merah war vor seinem Fenstersturz noch auf den Stoßtrupp schießend zugestürmt. Hauteclocque ergänzte, seine Leute hätten zuerst nicht tödliche Waffen eingesetzt und geplant, Tränengas anzuwenden, doch sei ihnen der Terrorist mit seinem Ausfall zuvorgekommen.

In mehreren Zeitungen wird gefragt, warum Merah beim Fenstersprung vom Scharfschützen erschossen wurde, obwohl die Devise galt, ihn lebend zu fangen. Er nimmt damit sein Wissen über eventuelle Komplizen und Verbindungen zur Terrorgruppe al-Qaida, auf die er sich berief, mit ins Grab.

Bereits Dienstag war Merah identifiziert und lokalisiert worden. Das verwundert nicht, da er für den Polizeigeheimdienst DCRI kein Unbekannter war. Auch bei den US-Behörden, die ihn 2010 nach seiner Gefangennahme in Afghanistan verhört hatten, galt er als terrorverdächtig und hatte in den USA Flugverbot. Verdachtsmomente auf eine islamistische Radikalisierung existierten, wie man jetzt weiß, schon ab seiner ersten Haft in Frankreich im Jahr 2006.

„Merah wurde nicht adäquat überwacht“

Der Strategieexperte François Heisbourg meint, Merah sei nicht adäquat überwacht worden. Dabei wurde er November 2011 an seinem Wohnort von der DCRI kontaktiert und zur Befragung wegen einer Pakistanreise vorgeladen, die er glaubhaft als Tourismus darstellte. Danach scheint die DCRI ihn aus den Augen verloren zu haben. Für Heisbourg steht fest, dass Merah ein gefährlicher, erstaunlich kaltblütiger Islamist war, der für genau solche Untaten ausgebildet worden sei.

Hat die DCRI also grob fahrlässig warnende Vorzeichen übersehen und versagt? Nein, antwortet Premierminister François Fillon: „Es gab keinerlei Indizien für seine Gefährlichkeit.“ Nur wegen seiner Gesinnung habe man ihn ja nicht verhaften können.

Verdächtiges Paket  gesprengt

Im Zentrum der südfranzösischen Stadt Toulouse haben Spezialisten am Freitagabend indes mit einem ganz anderen Problem zu kämpfen gehabt: Ein verdächtiges Paket wurde gesprengt. Wie eine Reporterin der Nachrichtenagentur AFP berichtete, wurde der Kapitol-Platz zuvor geräumt und abgesperrt. In Toulouse und Umgebung gilt weiterhin erhöhte Alarmbereitschaft für die Sicherheitskräfte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Weltjournal

Frankreich: „Rachepläne“ gegen Richter

Die vergangene Woche verhafteten Islamisten sollen laut Behörden die Entführung prominenter Personen erwogen haben. Gegen 13 der am Freitag Verhafteten ist eine Strafuntersuchung eingeleitet worden.
Weltjournal

Frankreich: Waffenfund bei Islamisten

19 Sympathisanten einer verbotenen Gruppe wurden verhaftet, man fand bei ihnen Gewehre. Der Attentäter von Toulouse, Mohamed Merah, wurde unterdessen beerdigt.
Merahs Eltern stammen aus Algerien. Das afrikanische Land lehnt eine Überführung des Leichnams des 23-Jährigen ab.
Weltjournal

Toulouse-Attentate: Tauziehen um Beerdigungsort von Merah

Die Leiche von Mohamed Merah wurde am Stadtrand von Toulouse beigesetzt. Die Stadtverwaltung hatte vergeblich versucht, die Bestattung des 23-Jährigen zu verhindern.
Weltjournal

Attentäter von Toulouse hatte Helfer

Video über Mordserie wurde laut Polizei von Komplizen abgeschickt. Adressiert war das Paket an das Pariser Büro des arabischen TV-Senders al-Jazeera. Der Fernsehsender wird es nicht senden.
Toulouse Polizei sucht Absender
Weltjournal

Toulouse: Polizei sucht Absender des Anschlag-Videos

Die Aufnahmen zeigen den Zusammenschnitt mehrerer Morde des 23-Jährigen zeigen. Al-Jazeera wird das Video nicht ausstrahlen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.