Auf der Jagd nach den Giganten aus Eis

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Das Unglück der Titanic veränderte die Schifffahrt: Seither überwacht die „Internationale Eispatrouille“ rund um die Uhr die Bewegung der Eisfelder, um Schiffe vor Gefahren zu warnen.

Ottawa. Luc Desjardins sitzt vor den Computern in der Zentrale des „Canadian Ice Service“ in der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Die Bildschirme zeigen Karten der Ostküste und Tabellen. Vor der Küste Neufundlands häufen sich Dreiecke in bunten Farben. Sie markieren die Standorte und die Größe von Eisbergen. Luc Desjardins beobachtet die Bewegung der gefährlichen Kolosse auf dem Monitor.

Eisberge faszinieren – wenn man sie aus respektvoller Distanz betrachtet. Für die Schifffahrt im Nordatlantik dagegen sind sie eine ständige Gefahr. Die Titanic-Katastrophe 1912 veranlasste die Staatengemeinschaft, die „International Ice Patrol“ (IIP) zu schaffen. Sie beobachtet den Weg von Eisbergen und warnt die Schifffahrt. Mit Erfolg: Seit es die Eispatrouille gibt, ist in den Eisberggewässern bei Neufundland kein einziges Schiff, das sich an die Empfehlungen der IIP hielt, mit einem der Giganten aus Eis zusammengestoßen.

Mit einem Klick schaltet Desjardins die Meeresströmungen hinzu, die die Eisberge in den nächsten Wochen weiter nach Süden führen könnten. Doch Mitte April ist es am 41. Grad nördlicher Breite und 50. Grad westlicher Länge, wo sich in der Nacht zum 15.April 1912 die Kollision der Titanic mit einem Eisberg ereignet hat, ruhig.

14 Schiffe in acht Jahren

Seit Beginn der Schifffahrt im Nordatlantik haben Eisberge Schiffe bedroht. Vor allem im Bereich der Grand Banks, der Neufundlandbank, ereigneten sich immer wieder Unglücke. „Zwischen 1882 und 1890 wurden 14 Schiffe verloren und 40 durch Eis ernsthaft beschädigt, nicht eingeschlossen eine große Zahl von Walfang- und Fischerbooten“, berichtet die IIP. Aber erst nach dem Titanic-Desaster wurde gehandelt. 1913 fand die erste Konferenz über „Sicherheit von Leben auf See“ statt, ein Jahr später wurde die gleichnamige „Convention for the Safety of Life at Sea/SOLAS“ beschlossen. Zudem wurde die „International Ice Patrol/IIP“ geschaffen, in der Amerikaner und Kanadier zusammen arbeiten. Täglich geben sie Karten und Analysen heraus.

Unterwegs auf der Eisbergallee

„Grönland ist eine Eisbergfabrik“, sagt Desjardins. „Durch jeden Fjord erreichen Gletscher das Meer und können Eisberge schaffen“, erläutert er und zeigt auf einer Landkarte auf Grönlands zerklüftete Küste. Nach Angaben der IIP entstehen jährlich 10.000 bis 15.000 Eisberge. Die Eisberge, die von den Gletschern abbrechen, wandern mit der Westgrönland-Strömung in der Davis Strait und Baffin Bay zunächst nach Norden. „Eisbergallee“ wird der Weg genannt.

Der Zufluss von Wasser vom Arktischen Ozean ändert dann ihre Richtung, und sie treiben entlang der Küste der Baffin-Insel, Labradors und Neufundlands nach Süden. Die eiskalte Labrador-Strömung trifft schließlich auf den wärmeren Golf-Strom. Die Temperaturunterschiede von bis zu 20 Grad erzeugen Nebel, hinzu kommt die Häufung von Fracht- und Fischereischiffen und Ölbohrinseln. Diese Kombination „macht diese Gewässer zu einem der gefährlichsten Seegebiete der Welt“, stellt die International Ice Patrol fest.

„Wir können Modellberechnungen für ein Gebiet von etwa drei Millionen Quadratkilometern vornehmen“, erläutert Desjardins. Es erstreckt sich vom 60.Breitengrad – der Südspitze Grönlands – bis zum 37.Breitengrad, also unterhalb des Titanic-Unglücksortes. Aktiv durch IIP kontrolliert wird ein kleineres Seegebiet, das 1,7Millionen Quadratkilometer umfasst und mit Flugzeugen überflogen wird.

Der kritische Bereich liegt bei 48 Grad, was der Höhe von Neufundlands Hauptstadt St.John's entspricht. Ab hier können die Eisberge die wichtigen Schifffahrtsrouten gefährden. „Wir haben hunderte, wenn nicht tausende Eisberge in Baffin Bay und Davis Strait. Entscheidend ist, wie viele in den Bereich südlich des 48. Breitengrades kommen.“ Dieses Jahr erwartet Desjardins ein „normales Eisbergjahr“ mit 400 bis 800 Eisbergen südlich des 48. Breitengrads.

Neue Aufgaben durch Eisschmelze

Die Experten stützen sich auf Satelliten- und Radaraufnahmen, vor allem aber auf die Ergebnisse der Überflüge, bei denen Eisberge lokalisiert werden. Hinzu kommen Informationen, die vor allem von Handelsschiffen eingehen. Mit all diesen Daten wird ein Bild vom Eisbergaufkommen mit den Grenzen des Eisbergfeldes erstellt und an die Schiffe gesendet. „Wir sagen den Schiffen, wo sie sicher fahren können und wo sie mit Eisbergen rechnen müssen. Die Entscheidung über die Routen liegt aber dann beim Kapitän“, sagt Desjardins.

Doch mit dem Schmelzen des Eises und der erwarteten Öffnung des Eismeers kommen neue Aufgaben auf die Patrouille zu. Der Schiffsverkehr wird sich verstärken, die Risken durch das Eis aber bleiben.

Auf einen Blick

Die Kollision des Ozeandampfers Titanic mit einem Eisberg im Nordatlantik in der Nacht zum 15. April 1912 hatte Konsequenzen für die Schifffahrt: 1914 wurde die „International Ice Patrol“ (IIP) gegründet. Die Organisation überwacht die Bewegung von Eisfeldern und erstellt Karten, um Schiffe zu warnen. Die Entscheidung über Ausweichrouten liegt bei den Kapitänen.

Zu den 17 beteiligten Staaten zählen neben den USA und Kanada auch 13europäische Staaten sowie Japan und Panama. Hauptsitz der IIP ist seit Jänner 2009 New London im US-Staat Connecticut. Die Luftaufklärung operiert mit vier Lockheed HC-130 von St. John's auf Neufundland (Kanada) aus. Zudem sind drei Schiffe für ozeanografische Beobachtungen unterwegs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2012)

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