Belagerungsfolklore mitten in Wien

RAeUMUNG DER 'PIZZERIA ANARCHIA'
RAeUMUNG DER 'PIZZERIA ANARCHIA'(c) APA/HERBERT OCZERET
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Hunderte Polizisten versuchen mit Panzer und Hubschrauber ein besetztes Haus zu räumen und schneiden sich stundenlang durch die Barrikaden. 19 Personen werden delogiert.

Wien. Manche Traditionen halten sich ewig. Schon im Mittelalter war es gängige Praxis, feindlich gesinnte Belagerer aus den Pechnasen der Burg mit Müll, Urin und anderem Unrat zu empfangen. Gängigste Methode dagegen: Die Belagerer rückten mit einem überdachten Rammbock, einer „Schildkröte“ an.
Szenenwechsel nach Wien-Leopoldstadt, gestern, Montag: Hunderte Polizisten in schwerer Demo-Ausrüstung (Körperpolster, Plastikschild), eine eigene Anti-Hunde-Staffel mit dick gepolsterten Hosen und Ärmeln, ein Polizeihelikopter, Dutzende Sanitäter, ein Wasserwerfer, ein Stadtpanzer, ein Aufräumzug der MA 48, ja sogar ein Einsatzseelsorger sind zu einer Belagerung angerückt.

Ihr Ziel: Im Auftrag des Bezirksgerichts Leopoldstadt sollen sie ein gutes Dutzend selbst ernannter Anarchisten aus der Mühlfeldgasse 12, einem vierstöckigen Altbau, delogieren, den sie seit zweieinhalb Jahren besetzt halten. (Detail am Rande: Die Punks behaupten, ursprünglich auf Angebot des Hauseigentümers eingezogen zu sein, der so andere Bestandsmieter hätte verprellen wollen).

Beschuss durch Stinkbomben

Was einfacher klingt, als es dann tatsächlich ist: Denn die für zehn Uhr anberaumte Räumung des Hauses samt der Pizzeria Anarchia, für die die gesamte Straße gesperrt und der Verkehr durch die umliegenden Gassen eingeschränkt wurde, kann erst gegen 20.30 Uhr beendet werden.
Beides – Großaufgebot und lange Einsatzdauer – hat mit der Vorbereitung der Hausbesetzer zu tun, die oben erwähnte mittelalterliche Taktiken nötig machen: Weil der Räumungstermin, wie in der Exekutionsordnung vorgesehen, bereits vorab bekannt war, haben sich die „Anarchisten“ nach allen Regeln der Kunst verbarrikadiert: Immer wieder muss die Polizei mit Trennscheiben, Kreis- und Kettensägen hantieren, Möbelreste, Metall- und Betontrümmer aus dem Flur des Hauses schleppen.
Dazu, erklärt Polizeisprecher Roman Hahslinger, hätten die Besetzer in den vergangenen Tagen Gerüchte über in dem Haus installierte Fallen gestreut – und nach der Räumung wäre mit Solidaritätskundgebungen zu rechnen gewesen, die ebenfalls von der Polizei zu sichern gewesen wären.
Und wie einst bei den Pechnasen prasseln dabei Unannehmlichkeiten aller Art auf die Polizei ein: Einmal stellt sich einer der Punks in das Fenster über dem Hauseingang und uriniert auf die Beamten, andere begießen sie mit übel riechenden Flüssigkeiten, werfen Styroporstücke, einen Besenstiel, Damenunterwäsche, Farb- und Wasserbomben . . ., die großteils von einem groben Holzverschlag abprallen – der „Schildkröte“, mit der die Polizei ihre Handwerker beim Öffnen der Haustüre schützt.

(c) Die Presse

Leicht verletzte Polizisten

Trotz des martialischen Aufgebots der Polizei und der Verbunkerung der „Anarchisten“ bleibt die Räumungsaktion im Wesentlichen eine folkloristische Angelegenheit: Anders als in Deutschland, wo bei solchen Delogierungen schon einmal Ziegelsteine fliegen, bleibt es in der Mühlfeldgasse bei leichten Projektilen, auch die Polizei schießt „nur“ mit Wasser aus einem Schlauch zurück, statt es mit Hochdruck durch den Wasserwerfer zu pressen. Fazit: einige leicht verletzte Polizisten und – am Ende – 19 Festnahmen. Die Hausbesetzer werden nach Angaben der Polizei wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und versuchter schwerer Körperverletzung angezeigt.

Wer zahlt 1700 Beamte?

Den Einsatz, für den Medienberichten zufolge bis zu 1700 Polizisten bereit gestanden sein sollen – Hahslinger sprach von bis zu 500 Beamten, das Innenministerium wollte keine Stellungnahme abgeben –, dürfte letzten Endes die öffentliche Hand bezahlen müssen.
Während „normale“ Räumungen nämlich grundsätzlich der Betreiber – also der Vermieter – zu zahlen hat (der sich dann bei den Delogierten regressieren kann), liegt die Rechtslage hier anders: Ob die Polizei beigezogen wird, liegt nicht in der Hand des Vermieters – sondern in jener des Gerichtspräsidenten, der den Assistenzeinsatz bei der Exekutive anfordert. Wie groß der Einsatz angelegt wird, entscheidet die Polizei dann allein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2014)

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