Die letzten Schwarzfahrer

Die Schwarzkappler lauern immer und überall
Die Schwarzkappler lauern immer und überall(c) Michaela Bruckberger
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Billigere Tickets, höhere Strafen, mehr Kontrollen: Das Phänomen Schwarzfahren geht zurück, heißt es bei den Wiener Linien. Wer heute schwarzfährt, macht das mit System.

Tricks, um gratis durch Wien zu fahren, gibt es viele. M. kennt sie wohl fast alle. Von den Ausreden, dem Schäkern und Schmähführen mit Kontrolloren, kleinen Bestechungen, den Apps bis zum Davonlaufen. Aber Schwarzfahren ist für ihn mehr, als sich gratis eine Leistung zu erschleichen, die andere zahlen. Seit 21 Jahren hat er kein Ticket gekauft. Seit er als 14-Jähriger übersehen hat, sich ein Schülerticket zu besorgen, ist er jeden Tag schwarz im Netz der Wiener Linien unterwegs, siebenmal musste er das, wie es bei den Wiener Linien heißt, „teuerste Ticket“ um derzeit 103 Euro zahlen. Kontrolliert wurde er schon viel öfter, meistens ist M. mit Tricks entkommen.

Schwarzfahren ist für ihn kein Schmarotzertum, sondern eine Art Mission: „Es ist meine Form des Protests gegen ein System, in dem wir für alles zur Kassa gebeten werden, während es sich andere richten“, sagt er, und spricht davon, dass der öffentliche Verkehr allen kostenlos zur Verfügung stehen sollte.


„Fahrschein bitte“ bei jeder 100. Fahrt. M., selbstständiger Designer mit Hintergrund in der Graffitiszene, dürfte als passionierter Schwarzfahrer aber einer der letzten seiner Art sein. Den offiziellen Zahlen der Wiener Linien nach kommt Schwarzfahren etwas aus der Mode: Nur 2,1 Prozent aller kontrollierten Fahrgäste wurden voriges Jahr ohne Ticket aus dem öffentlichen Verkehr gezogen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die „Quote“ mehr als halbiert. Wiener-Linien-Sprecher Dominik Gries erklärt das mit den gesunkenen Ticketpreisen und den dichteren Kontrollen – die seit 2004 mehr als verdoppelt wurden: Im Schnitt wird man heute bei jeder 100. Fahrt kontrolliert. Bei zwei Fahrten an jedem Werktag wären das mehr als fünf Kontrollen pro Jahr – die Rechnung, auf Schwarzfahren zu setzen, geht nicht auf: Einmal erwischt zu werden kostet mindestens 103 Euro, eine Jahreskarte 365 Euro.

Für die Wiener Linien ist die schwindende Zahl an Schwarzfahrern ein klarer Erfolg. M. – er nennt sich als Künstler übrigens „The Schwarzfahrer“ und wird auch von Freunden so angeredet – sieht das anders: „Sie kontrollieren viel mehr, erwischen aber weniger Leute.“ Seiner Theorie nach liegt das daran, dass sich die Szene besser organisiert: Über Apps wie „Schwarzkappler“, Twitter-Hashtags oder Facebook-Gruppen lässt sich gut verfolgen, wo gerade kontrolliert wird. Dazu komme die Möglichkeit, ein Handyticket erst zu lösen, wenn man Kontrollore im Waggon sieht. Bei den Wiener Linien nimmt man die Warnungen per Social Media sportlich: „Wer will denn während der Fahrt immer wie von der Tarantel gestochen auf das Handy starren?“, meint Gries. Heißt es dann doch „Fahrschein bitte“, so würden alle Ausreden nicht helfen. Auch für ein Handyticket sei es dann zu spät, muss es doch vor Fahrtantritt gelöst werden.

Passionierte Schwarzfahrer erzählen aber anderes: vom Schäkern mit dem Kontrollor, kreativen Ausreden, Bestechung. Oder es ergeht den Kontrolloren so wie einem, kürzlich beobachtet in einer Straßenbahn der Linie 9: Sein Versuch zu kontrollieren scheitert, als Schwarzfahrer anfangen zu pöbeln. Was dem Kontrollor denn überhaupt einfalle, wurde er beschimpft, bis er aufgab, ausstieg und frustriert beim Würstelstand erzählte, dass er sich Linien wie die 9er, die nicht gerade die nobleren Gegenden Wiens passiert, nicht mehr antue. Dabei ist Schwarzfahren kein Armutsphänomen, wie Gries sagt. Fahrgäste ohne Ticket finde man aus allen Schichten und in allen Gegenden. Hotspots gebe es nicht.

Auch wenn die Kontrollen nachts freilich herausfordernder sind, komme es trotzdem selten zu brenzligen Situationen, die meisten nehmen ihr Ertapptwerden locker und setzen sich nicht zur Wehr. Wobei der Glaube, Kontrollore dürften Fahrgäste nicht angreifen, ein Mythos ist: Laut OGH-Spruch dürfen Kontrollore Schwarzfahrer wohl festhalten, wenn nötig mit „angemessener Gewalt“. „Aber es gilt der Grundsatz zu deeskalieren, im Zweifel wird niemand die Cowboynummer durchziehen“, sagt Gries.


Räuber und Gendarm für Stadtkinder. Weglaufen, auf diese Strategie setzt auch Schwarzfahrer M. mitunter. Aber das sei selten nötig. Die meisten Kontrollore erkenne er. Zwar schicken die Wiener Linien heute unterschiedlichste Mitarbeiter zur Kontrolle – die meisten aber, so M., fallen auf: durch eigenartige kleine Taschen, die nicht zum Outfit passen, durch Gerätschaften, die sich durch das Gewand abzeichnen, dadurch, wie sie erst als Gruppe auftreten und sich dann je zu zweit auf die Waggons aufteilen. Oder er kennt sie persönlich – und vice versa. Provoziert er die Wiener Linien doch ganz gern: zum Beispiel mit seinem „Weltrekord“, für den er voriges Jahr mit Freunden in fünfeinhalb Stunden das gesamte U-Bahn-Netz Wiens ohne Ticket abfuhr und ein Video davon im Internet verbreitete. Oder indem er eine Schwarzfahrerkollektion über seine Website Theschwarzfahrer.com verkauft.

Schließlich ist das Schwarzfahren quasi seine Mission. Irgendetwas zwischen Protest, Kunst und letztem Abenteuer, einer Art Räuber-und-Gendarm-Spiel für Großstädter. Bei den Wiener Linien sieht man das – offiziell – relativ sportlich: Bis auf ein paar, die halt meinen, für sie gelten keine Regeln, komme das Schwarzfahren ja ohnehin mehr und mehr ab, heißt es.

In Zahlen

2,1 Prozent aller Fahrgäste der Wiener Linien wurden voriges Jahr ohne gültigen Fahrschein aus dem öffentlichen Verkehr gezogen – zehn Jahre zuvor lag die offizielle „Quote“ noch bei 4,6Prozent.

7,9 Millionen Fahrgäste wurden 2014 kontrolliert – statistisch gesehen wird man in den Wiener Linien bei jeder hundertsten Fahrt nach dem Fahrschein gefragt.

103 Euro kostet das „VIP-Ticket“ – das man lösen muss, sobald man ohne Karte erwischt wird. Zahlt man nicht innerhalb von drei Tagen, wird es noch teurer.

100 Kontrollore sind zeitgleich im öffentlichen Verkehrsnetz unterwegs. Für jeden Schwarzfahrer, den sie aufgreifen, bekommt ein Schwarzkappler eine Prämie von gut vier Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2015)

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