Justiz nach Polizeigewalt-Vorwürfen: "Anklage war vorschnell"

Nach der gewaltsamen Festnahme einer Frau in Wien kritisieren Ministerium, Staatsanwalt und Experten das Vorgehen der Polizei und die "vorschnelle" Anklage gegen die Festgenommene.

Wien. Wie kann es passieren, dass Beamte in einer Wiener Silvesternacht eine angeblich randalierende Frau traktieren und festnehmen, obwohl auf einem Überwachungsvideo von deren Aggression nichts zu bemerken ist? Und wie kann es sein, dass der Staatsanwalt diese Frau wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung anklagt, ohne sich das Video (siehe unten) je angesehen zu haben? In dem Fall, den der aktuelle „Falter“ aufgebracht hat („Die Presse“ berichtete), übte Christian Pilnacek, der Leiter der Strafrechtssektion im Justizministerium, am Mittwoch im Ö1-„Morgenjournal“ Kritik an den Beamten: „Das Vorgehen der Polizei ist sicherlich aufklärungs- und erörterungsbedürftig, weil mir der Einsatz zu massiv erscheint.“ Im Verhalten der Frau sah Plinacek keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt, vielmehr sei zu fragen, „ob das nicht als Verteidigungshandlungen (gegen die Polizisten, Anm.) einzuschätzen ist“. Dass die 47-Jährige wegen Widerstands und schwerer Körperverletzung angeklagt wurde, sei jedenfalls „vorschnell“ gewesen, so Pilnacek

Bei der Frau selbst wurden am 1. Jänner 2015 im AKH ein Bruch des Steißbeins, Prellungen von Schädel und Knie sowie Blutergüsse festgestellt. Diese Vorwürfe hatte sie damals auch zu Protokoll gegeben. Bei so einem Verletzungsbild sei fraglich, ob es überhaupt wahrscheinlich sein könne, „dass sie danach noch Widerstandshandlungen setzt“, so Plinacek.

„Anklagen sollten begründet werden“

Auch die Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien, Maria-Luise Nittel, nannte die Anklageerhebung „vorschnell“: Der zuständige Staatsanwalt „hätte das ganze Beweismaterial abwarten und sichten müssen und erst danach über einen Strafantrag entscheiden“. Und: Dass auch gegen die Beamten ermittelt werde, müsse er gewusst haben, es gab in der Anzeige einen Vermerk über die internen Erhebungen durch das Büro für besondere Ermittlungen. „Wir bedauern diesen Vorfall außerordentlich“, so Nittel.

Johann Golob, Sprecher der Wiener Polizei, bewertet den Fall lieber im größeren Kontext: Unabhängig vom Anlass seien es „ja doch meistens Beschuldigte“, die solche Vorwürfe erheben würden, weil sie „strafbarer Handlungen verdächtig“ seien. Nachsatz: „Das muss schon genau hinterfragt werden.“ Bei 250 Anzeigen gegen Polizisten im Vorjahr habe es jedenfalls keine Verurteilung gegeben. Ob das ein Grund für Stolz ist, hinterfragt allerdings Walter Hammerschick: „Wenn es trotz so vieler Anzeigen keine einzige Verurteilung gab, kann man sich auch fragen, ob da nicht vielleicht mit zweierlei Maß gemessen wird“, so der Geschäftsführer des Wiener Instituts für Rechts-und Kriminalsoziologie.

Ein Strukturproblem ortet auch Helmut Fuchs, Strafrechtsexperte an der Uni Wien. Der Anlassfall zeige dass „bisweilen zu schnell angeklagt wird“. „Derzeit“, sagt Fuchs, „müssen Anklagen mit einer Strafdrohung bis zu fünf Jahre nicht begründet werden, das sollte man ändern.“ Eine genauere Kontrolle koste aber Geld und schon jetzt sei die Staatsanwaltschaft überlastet. Widerstand gegen die Staatsgewalt (§269 Strafgesetzbuch) ist mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht, bei schwerer Nötigung mit bis zu fünf Jahren.

Wobei Hammerschick die Befürchtung, äußert, dass speziell der §269 StGB mitunter auch„ präventiv“ angezeigt werden könnte, „sobald es zu einem Einsatz der Körperkraft vonseiten der Polizei kommt“. Denn damit, so Hammerschick, könnte auch die eigene Position gestärkt werden.

Tatsächlich sind die Anklagen wegen Paragraf 269 StGB tendenziell etwas gestiegen: von 1271 im Jahr 2010 auf 1329 im Vorjahr. Das zeigt eine Aushebung des Justizministeriums. Die Verurteilungen im gleichen Zeitraum sind – mit Schwankungsbewegungen – eher stabil: 2014 waren es 1028, im Jahr 2010 waren es 1053.

Im Anlassfall richtet der Rechtsvertreter der Frau, Wilfried Embacher, die Maßnahmenbeschwerde gegen die Landespolizeidirektion. Es gebe aber bis dato weder eine Stellungnahme der Gegenseite noch einen Verhandlungstermin, so Embacher. Bei den strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Beamten gehe er davon aus, dass sie „mit mehr Nachdruck“ geführt würden. (uw/APA)

Das vom Falter hochgeladene Überwachungsvideo (Kurzfassung):

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2015)

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