Obdachlosigkeit in Wien: 100 neue Plätze für untertags

(c) Stanislav Jenis
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Am Hauptbahnhof und am Praterstern haben jüngst zwei neue, moderne Tageszentren für je 50 Obdachlose eröffnet. Der Bedarf an derartigen Einrichtungen ist in Wien in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

Wien. Fast wirkt es wie ein Kaffeehausbetrieb. Mit der gelben Bar, der hohen, lichtdurchlässigen Decke, hell, reduziert und durchdesignt. An den Tischen sitzen Männer. Die einen reden, essen Suppe, andere lesen, starren auf Handy-Displays. Viele, die Zeit totschlagen, sich ausruhen. Einer hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und döst. Wieder ein anderer will unbedingt für den Fotografen posieren. Breitbeinig, Lederjacke, schmaler Bart und Locken, zeigt er das Victory-Zeichen.

Es ist noch nicht zehn Uhr, und im neuen Tageszentrum der Caritas am Hauptbahnhof herrscht Vollbetrieb. Konzipiert für 50 Menschen, halten sich dort nun täglich 70 Obdachlose auf, wie Teamleiter Stephan Waldner erzählt. Dass es hier ein neues Zentrum gibt, hat sich schnell herumgesprochen. Der Bedarf an Orten wie diesem ist offenbar groß. Eine offizielle Zahl der Obdachlosen in Wien gibt es nicht. Klar ist aber, sie steigt. Die Essensausgaben haben sich binnen weniger Jahre stark gesteigert. An das P7, die zentrale Caritas-Bettenvermittlung, haben sich voriges Jahr 5930 Menschen gewandt. Auch die Zahl der Menschen, die in der Gruft oder von Streetworkern betreut wurden, ist zuletzt deutlich angestiegen.

Ein Drittel unter 30 Jahren

Im Rahmen des Caritas-Streetworks wurden im Vorjahr 2887 Menschen durch Sozialarbeit betreut und 32.309 Kontakte gezählt – 2013 waren es noch 1991 Klienten und 20.971 Kontakte. Laut Caritas ist ein Drittel jener Menschen, die sich wegen Wohnproblemen an die Caritas wenden, unter 30 Jahre alt. Laut Stadt Wien haben 2013 (die jüngste Zahl) 4140 Menschen zumindest einmal in einem Notquartier, das der Fonds Soziales Wien mitfinanziert, genächtigt. Rund zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Sozialarbeiter der Caritas schätzen die Zahl der von akuter Obdachlosigkeit Betroffenen in Wien auf einige hundert – das sind jene, die in Parks, Abbruch- oder Parkhäusern, WC-Anlagen oder in Notquartieren übernachten.

Bahnhöfe sind seit jeher ein Magnet für Obdachlose. So war die Schaffung des neuen Caritas-Hauses am Wiedner Gürtel (auch die Anlaufstelle P7 ist dort eingezogen) naheliegend. Gegenüber soll übrigens ein weiteres Zentrum entstehen (siehe Artikel unten). Und auch am Praterstern gibt es ein neues Tageszentrum für rund 50 Menschen, das vom Roten Kreuz betrieben wird: Das Stern, das Mitte April offiziell eröffnet, hat vor einer Woche den Betrieb aufgenommen. Auch das ist ein neues, modernes Tageszentrum. Es gibt Kaffee oder die Möglichkeit, Wäsche zu waschen oder zu kochen. Es soll auch darum gehen, Obdachlosen mit Beratung zu langfristig besseren Lebensverhältnissen zu verhelfen, wie Alexander Tröbinger vom Roten Kreuz sagt. Dass binnen weniger Wochen zwei neue Tageszentren aufsperren, sei zwar ein Zufall, sagen die Verantwortlichen. Und doch sieht man das bei Caritas, Rotem Kreuz und FSW klar als Indikator für den gewachsenen Bedarf: Mit den beiden neuen stehen nun in (FSW-geförderten) Tageszentren 400 Plätze ganzjährig zur Verfügung, an denen sich Obdachlose tagsüber aufhalten können. Bis 2012 gab es nur drei solcher Zentren, heute sind es sechs. Dazu kommen kleinere, unabhängige wie das Häferl, das auf Haftentlassene ausgerichtet ist.

Der Bedarf sei lang offensichtlich gewesen, heißt es. Am Praterstern, an dem mangels Alternative der überdachte Vorplatz zum Tages-Aufenthaltsort wurde. Das Rote Kreuz hat lange in der Umgebung gesucht. Die Caritas hatte dort vor gut einem Jahr ein altes Pflegeheim zum provisorischen Zentrum umgestaltet – jenes Haus in der Laufbergergasse, das schließlich zu Magda's Hotel umgebaut wurde.

Schöne Orte, weniger Gewalt

Der Tageszentrumsbetrieb ist an den Wiedner Gürtel weitergezogen. Schließlich sind die Möglichkeiten in den neuen Räumen ganz andere: Es gibt Duschen, WLAN, PCs, Schlafkojen und Rückzugsräume für Frauen. Bald soll es auch Gratismahlzeiten geben – Ziel ist, dass diese etwa von Firmen kommen, die im Rahmen eines „Corporate Volunteering“-Projekts kochen. So, wie das in der Gruft schon lange geschieht und so stark nachgefragt wird, dass es schon Wartelisten für das Kochen gibt. Es sind Tageszentren neuer Art: hell, freundlich, großzügig. Und diese Gestaltung hat auch praktische Vorteile, wie Waldner erzählt: Gab es im alten Provisorium in der Laufbergergasse drei Polizeieinsätze pro Woche, sei das im neuen Haus noch nicht notwendig gewesen. „Die freundlichen Räume beruhigen, es gibt Beschäftigung, die Klienten fühlen sich wertgeschätzt, das vermindert Aggressionen.“

Und schließlich kommen immer mehr Leute, die dem Stereotyp des Obdachlosen gar nicht entsprechen. Ein junger, gepflegter Mann, der mit Sporttasche morgens kommt und Richtung Dusche verschwindet, zum Beispiel. Oder Personen, die illegal auf dem Bau arbeiten, um in Abbruchhäusern schlafen zu dürfen. Oder Menschen, die nachts an Fließbändern arbeiten – und in der Früh statt nach Hause ins Obdachlosen-Zentrum gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

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