Stadtbild: Das hässliche und das schöne Wien

Wien
Wien(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Wien abseits vom Postkartenidyll. Es gibt viele hübsche Orte, die es nie auf Ansichtskarten geschafft haben – und hässliche Orte, die es wohl auch nie schaffen werden.

Das hässliche Wien

Ein Publikumshit war Klein Brasilien: 1300 Besucher zogen sich an einem Septemberwochenende im Vorjahr im Regen brav vor der Haustür die Schuhe aus und ließen sich von den Bewohnern durch das Kleingartenhäuschen schleusen. Iris Kaltenegger, Organisatorin von Open House Wien, ist begeistert, vom Erfolg wie vom Haus – und da vor allem von den Fenstern: „Das kleine Haus wirkt innen riesig, das ist total gut gemacht.“ Die Eigentümer ließen sich vom Andrang übrigens nicht verschrecken: Sie sind auch heuer wieder mit dabei.
Zum zweiten Mal lädt an diesem Wochenende die Aktion Open House zur Erkundung guter Architektur in Wien, und das nicht nur von außen: Wie Klein Brasilien stehen viele Gebäude offen, die entweder privat bewohnt und/oder sonst nicht zugänglich sind, vom Hochhaus Herrengasse bis zum Getreidespeicher am Alberner Hafen (auch die beiden zählten im Vorjahr zu den großen Magneten.)
Wien habe eine einzigartige Architekturgeschichte und eine Fülle an zeitgenössischer Baukultur vorzuweisen, sagt Architektin Iris Kaltenegger. Oft genug laufe man an diesen „architektonischen Juwelen vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen“. Und ohne darüber nachzudenken, wie Architektur das eigene Wohl- oder Unwohlbefinden an Orten beeinflusst. Mitgebracht hat sie die Idee aus London, wo Architektin Victoria Thornton 1992 Open House als kleine Non-Profit-Organisation gegründet hatte, um der Bevölkerung Design und Architektur der Stadt näherzubringen. Zehn Jahre später folgte New York; heute ist das Format in 32 Städten weltweit zu finden.
2014 fand die Wiener Premiere statt. Noch heute staunt Kaltenegger über den Andrang vor Otto Wagners Gebäude der Postsparkasse. „Ich hätte gedacht, das kennt eh jeder.“ Andererseits: An diesem Wochenende komme man auch in die Gouverneursräume, das gehe normalerweise nicht. Als Highlights entpuppten sich auch der Klima-Wind-Kanal, das Headquarter von Microsoft, der Kuppelsaal der TU oder die 1913 von Adolf Loos für Emil Löwenbach gebaute, gut erhaltene Wohnung unweit der Urania, in der heute der Wiener Bridge-Club residiert. Aber auch der Wirtschaftspark Breitensee oder Brick 5, der Verein zur Förderung der multimedialen Kunst und Technik, der in einer ehemaligen jüdischen Turnhalle in einem Backsteinbau im 15. Bezirk logiert – allesamt sind auch diesmal im Programm vertreten.

220 Freiwillige im Einsatz

Insgesamt stehen heute und morgen rund 80 Gebäude offen. Wohnungen und Büros, Gebäude für Bildung und Kultur. 40 davon waren schon im Vorjahr dabei, die andere Hälfte ist es heuer zum ersten Mal. Wobei, das Verteilungsverhältnis sei reiner Zufall, sagt Kaltenegger. Generell hat sie sich mit ihrem Team seit dem ersten Durchgang zum Ziel gesetzt, die Qualität des Wochenendes weiter zu steigern. Die Auswahl der Häuser hat deshalb inzwischen ein Weisenrat übernommen, in dem Architekten und Architekturkritiker, Journalisten und Denkmalexperten sitzen.
Geführt werden die Besucher von 220 Freiwilligen, 18-jährige Studenten sind genauso dabei wie Pensionisten. Statt einer Broschüre haben die Organisatoren heuer auch eigens zum Open-House-Wochenende im Metro-Verlag ein Buch herausgebracht. Es beschreibt die vorgestellten Gebäude, ergänzt um redaktionelle Beiträge zu Themen, die in der Luft liegen – samt architektonischen Beispielen. Da geht es etwa um Selbstversorger in der Stadt (und die Essigbrauerei Gegenbauer), die Kombination von Kunst und Bau (und Wohnbauten wie COM auf dem Nordbahnhof-Gelände, dessen perforierte Fensterläden ein Rilke-Gedicht künstlerisch umsetzen) oder Upcycling (Magdas Hotel). Neu sind auch eine kostenlose App mit Audioguide und eigene Führungen für Kinder – eine Idee, die beim ersten Open-House-Wochenende im Johanna-Dohnal-Haus entstanden ist. Insgesamt, sagt Kaltenegger, sei es heuer bereits deutlich leichter gewesen, Hausbetreiber zum Mitmachen zu begeistern. Von den 15 Kindergärten und Schulen ist heuer indes nur noch eine Schule dabei. Kaltenegger vermutet dahinter Einsparungen, „man müsste den Schulwart bezahlen“. Dabei seien einige Schulen Beispiele wirklich guter Architektur. „Das müsste man doch herzeigen wollen.“
Eine Art Geheimtipp sei die ehemalige Länderbank, ein Frühwerk Otto Wagners in der Hohenstaufengasse, oder auch das Börsegebäude mit seinem Park im Innenhof, „der öffentlich begehbar ist, den aber kaum jemand kennt“. Sehen kann man dort auch den Festsaal und, als Kontrastprogramm, das dort domizilierte Loft von Querkraft Architekten. Groß sei das Interesse aber auch an den Wohnhäusern, „wohl, weil man Bezug zu sich selbst herstellen kann“. Mit dabei sind etwa der Orasteig (Urbanität trifft Dorfstruktur), das WohnZimmer im Sonnwendviertel (mit Kino, Theaterraum, Bibliothek, Klettergarten, Schwimmbad und Indoor-Spielplatz) oder die Oase 22: Ein Bewohner zeigt dort Generationenwohnen – mit Hochbeeten, Sommerküche und Laufstrecke auf dem Dach. (tes)

Das schöne Wien

Auch, wenn es noch unentdeckte Seiten gibt – dass Wien schön ist und wo die Stadt das ist, das weiß man. Genauso reizvoll können manchmal aber die hässlichen Seiten Wiens sein. Den hässlichen Bauten, den Architektursünden, widmen sich in Wien nun die Ugly-Vienna- Stadtführungen – ganz in der Tradition des Wien abseits von Sisi- und Sachertortenklischees: düster, melancholisch, vom Tod fasziniert, in „dieser Ulrich-Seidl-Stimmung“, wie es von den Veranstaltern heißt.
Schließlich, so sagt Eugene Quinn von der Kulturplattform spaceandplace.at, die die Walks initiiert hat, ist Wien mehr als das Klischee. Urbaner, moderner, düsterer als die Stadt in der Tourismuswerbung ausschaut – er selbst habe, bis er vor sechs Jahren nach Wien gezogen ist, bloß das Klischee gekannt. Nun spaziert er mit Einheimischen und Touristen, diese halten sich bei den Spaziergängen etwa die Waage – auf den Spuren der Hässlichkeit durch Wien.
Wo ist Wien nun besonders unschön? Die Tour startet auf dem Karmelitermarkt – dass sie durch den zweiten und ersten Bezirk führt, sei eher Zufall, sagt Quinn. Man könne sie wohl überall machen, aber den Zweiten kenne er gut, und „der Erste ist so ein Klischee, der ist wie Disneyland“. Auf dem Karmelitermarkt wartet schon das erste Exponat der Hässlichkeit: Das „Haus der Zeit“, ein gewöhnlicher Gründerzeitbau mit einer neuen Fassadenbemalung. Seltsame Formen in Pastellfarben, „wie die öffentliche Psychotherapie des Künstlers“, sagt Quinn. Weiter geht es etwa zu Dachgeschoßausbauten, „die überall in der Stadt wie Raumschiffe, ohne jede Verbindung zum ursprünglichen Baustil, auf Häuser gesetzt werden. Außerdem schreckt es die Touristen immer, wenn man ihnen sagt, dass in Wien gewöhnlich sechs bis sieben Wohneinheiten auf einer Etage sind, in Dachgeschoßen nur ein bis zwei.“ Weiter geht es etwa zum Collegium Hungarium in der Hollandstraße oder zum Media Tower am Donaukanal.

Die Seele Wiens

Mit dem Bürohaus Hans Holleins setzt Quinn auch einen berühmten Architekten auf die Liste der Urheber der „Wiener Hässlichkeit“. Aber die, sagt er, sei ohnehin nicht so eng zu sehen. „Jeder hat seine Definition davon. Bei den Spaziergängen ist es lustig, wie die Leute anfangen, genau zu schauen. Was könnte das nächste Gebäude sein, bei dem wir haltmachen? Oder, wenn sich die Leute in einem Haus wundern, warum wir plötzlich davorstehen und es fotografieren.“
Und schließlich erforsche man mit der Hässlichkeit ja auch ein Stück der Seele Wiens – und offenbar komme das gut an: Bis nach Indien wurde über die Ugly Walks berichtet, und Eugene Quinn selbst hat jedes Mal Freude daran: „Ich freu mich schon sehr auf den Herbst, wenn richtig hässliches Wetter dazukommt. Wir starten am Wochenende am Vormittag, auch einer sehr hässlichen Zeit“, sagt er. Und, nicht zuletzt offenbare sich ja auch durchs Entdecken der Hässlichkeit dann erst das wahrlich Schöne.
Nicht unbedingt Hässlichkeit, dafür Planlosigkeit in der Baukultur, steht im Mittelpunkt des Planlos-Awards, den die IG Architektur auslobt. Von 1. Juli bis 8. September konnten Gebäude, aber auch Bauprojekte nominiert werden, die als besonders planlos betrachtet werden. Architekturpolitik, Stadtplanung und Vergabewesen sollen auf diese Art kritisch hinterfragt werden. Unter den Nominierten des heurigen Jahres finden sich unter anderem die Haupteingangshalle des Wiener Hauptbahnhofs, die Wientalterrasse, die Neu- bzw. Umbauten der Fußballstadien von Austria und Rapid, aber auch die Mariahilfer Straße – konkret der Umbau zu einer Fußgänger- bzw. Begegnungszone.
Eine unabhängige Jury wird am 29. September im Wiener WUK im Rahmen einer öffentlichen Festveranstaltung die planloseste Entscheidung und deren Verantwortliche küren. Der Preis wird alle zwei Jahre vergeben, heuer läuft die dritte Ausgabe. Im Jahr 2011 „gewann“ das Projekt „Asylzentrum Eberau“, 2013 das Österreichische Normungsinstitut. (cim)

In Kürze

Vienna Ugly. Die nächsten Touren: 3. Oktober, 9.30 Uhr, 21. November, 10.30 Uhr, 5. Dezember, 10.30 Uhr. Kostenbeitrag jeweils fünf Euro, Treffpunkt: Café Einfahrt, U2 Taborstraße. Anmeldung nicht erforderlich.
www.spaceandplace.at/2015/vienna-ugly-tour
Planlos Award. Die besonders prämierten Planlosigkeiten 2015 werden im Rahmen einer Galaveranstaltung am 29. September ab 19 Uhr im WUK Wien bekannt gegeben.
www.planlos2015.at
Open House Wien. 82 Gebäude öffnen heute, Samstag, und morgen, Sonntag, ihre Tore. Es gibt keine Anmeldung, der Eintritt ist frei.
www.openhouse-wien.at

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