Wiens Hauptbahnhof: Es fehlt das gewisse Etwas

Christian Mikunda hat sich die Dramaturgie auf dem Hauptbahnhof angesehen: Er sei ästhetisch schön, funktioniert, aber es ist kein Ort, an dem man sich gern länger aufhält.
Christian Mikunda hat sich die Dramaturgie auf dem Hauptbahnhof angesehen: Er sei ästhetisch schön, funktioniert, aber es ist kein Ort, an dem man sich gern länger aufhält.Die Presse
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Am 13. Dezember geht der Wiener Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Ein Rundgang mit Dramaturgie-Experte Christian Mikunda durch den Shopping-Bahnhof zeigt: Er funktioniert, aber nicht ganz.

Es zieht. Das fällt Christian Mikunda gleich auf, wenn er den neuen Wiener Hauptbahnhof betritt. Und nein, wir befinden uns nicht bei den offenen Bahnsteigen, die lediglich durch das – zumindest von oben – imposante Rautendach geschützt sind. Dort wäre das kein Problem, immerhin verweilt man an diesem Ort nur gerade so kurz, um in einen der Züge einzusteigen, die hier ab dem 13. Dezember im 90-Sekundentakt täglich verkehren werden.

Christian Mikunda steht in der Halle des neuen Bahnhofs, zwischen den beiden Haupteingängen, die auch die Bezirke Wieden und Favoriten verbinden, und sucht den Markuslöwen. Mikunda ist, wenn man so will, ein Experte für öffentliche, kommerzielle Räume und deren Dramaturgie. Er und seine Frau, Denise Mikunda-Schulz, sind die Begründer der strategischen Dramaturgie und beraten unter anderem Betreiber von Einkaufszentren, wie sie ebendiese zu besonders einladenden und attraktiven Orten machen können. „Die Presse am Sonntag“ hat deshalb Mikunda um einen gemeinsamen Rundgang durch den neuen Hauptbahnhof gebeten, der – wie so viele andere Bahnhöfe auch – vielmehr ein Einkaufszentrum mit angeschlossenem Bahnhof ist.

Mikunda, der via Rolltreppe aus der Tiefgarage kommt, sucht also den Markuslöwen, erblickt ihn neben dem Haupteingang und meint: „Schade, dass er hier so versteckt steht. Eigentlich ist der Löwe ein Symbol dafür, was man aus dem Hauptbahnhof hätte machen können.“ Immerhin stehe der Steinlöwe, der 1873 für den Südbahnhof gebaut wurde, für die Sehnsucht nach dem Süden. „Die Leute mögen den Löwen. Er stand schon in der k. u. k. Zeit für die Anbindung ans Meer, für Venedig und den Sehnsuchtort Süden.“ Er findet es schade, dass man ihn nicht prominenter platziert und die symbolische Bedeutung hervorgehoben hat.


Keine Aufenthaltsqualität. Generell vermisst er die Aufenthaltsqualität auf dem Bahnhof. Und nein, das habe nicht nur mit dem kalten Wind zu tun, der durch die Halle pfeift. Der Bahnhof sei ästhetisch schön, er funktioniere auch gut, aber es fehle etwas, sagt der Professor, der auch Lehrbeauftragter an zahlreichen Universitäten ist. Um genau zu beschreiben, was hier fehlt, muss er ein bisschen ausholen: „Alle Flughäfen und Bahnhöfe sind Hubs, die in zwei Richtungen arbeiten: Beschleunigung und Verzögerung.“ Erstere sei allein durch die Mobilität gegeben, dazu gehören die Züge an sich, aber auch das schnelle Vorankommen zum eigenen Ziel. „Die Beschleunigungsinszenierungen funktionieren gut. Man kommt zum Beispiel von der Parkgarage direkt zum jeweiligen Bahnsteig. Man muss nur 3,50 Euro pro Stunde zahlen.“

Die Verzögerung – die für einen Bahnhof, der auch ein Einkaufszentrum mit 90 Shops betreibt, ebenso wichtig ist – klappe hingegen weniger. „Ein Shopping-Bahnhof braucht eine Verzögerungsinszenierung, dazu braucht man ein Mall-Design, das fehlt hier“, sagt er und marschiert in Richtung Geschäfte. „Schauen Sie sich das an, das ist wie eine Autobahn. Man sieht die Bahnsteige und beschleunigt automatisch.“ Nur in den Untergeschoßen, wo es keinen direkten Zugang zu den Bahngleisen gibt, funktioniere das besser. „Schauen Sie, die Dame unten flaniert, sie geht viel langsamer. Die Menschen oben sind viel zu schnell.“

Beim Westbahnhof, der ein Kopfbahnhof ist, funktioniere die Balance zwischen Beschleunigung und Verzögerung hingegen besser. Der Hauptbahnhof aber, ein Durchzugsbahnhof, tue sich da schwer. „Er ist kein dritter Ort“, sagt Mikunda und holt erneut aus: „Das hat sich in den letzten 20 Jahren geändert: Man gestaltet nicht nur Shops, sondern auch das Dazwischen.“ Der dritte Ort sei – nach dem Zuhause und der Arbeitsstätte – jener Ort, an dem man gern „seine Zeit totschlägt. Das kann die italienische Piazza sein, das Beisl, das Wiener Kaffeehaus oder eben ein Einkaufszentrum.“


Die Freude fehlt. Der Shopping-Bahnhof Leipzig etwa sei so ein dritter Ort, jener in Wien leider nicht. Neben dem fehlenden Gleichgewicht zwischen Beschleunigung und Verzögerung – „allein das Wahrzeichen nach außen, das Rautendach, sagt Beschleunigung“ – vermisst Mikunda aber noch Etwas. Er nennt es Joy, die Freude. „Früher hat man Shops ausschließlich über Glory, Erhabenheit, inszeniert. Geschäfte wie Abercrombie & Fitch und Desigual haben aber ein neues Hochgefühl dazugebracht, nämlich Joy.“ Mikunda, der diese Hochgefühle gern mit den sieben Todsünden assoziiert, setzt die Freude in Verbindung zur Völlerei. „Das sieht man hier gut bei Desigual, mit den Flaschen, die an der Decke hängen“, sagt Mikunda und deutet in das Geschäft. Die von der Völlerei abstammende Freude meint also nicht die gastronomischen Betriebe, sondern vielmehr ein Wohlfühlgefühl, etwas, das einen Ort attraktiv macht. Man könnte es auch das gewisse Etwas nennen, das Menschen dazu bringt, länger zu verweilen. „Das führt zu einer hohen Dopaminausschüttung, die man zum Stöbern braucht.“

Neben diesem „Schuss Joy“ vermisst Mikunda auch die Identität, für die die Themen Süden, Sehnsuchtsort und Reisen auf der Hand liegen würden. Die Symbole dafür – siehe Markuslöwe – wären da oder könnten etwa mit Retro-Plakaten leicht geschaffen werden. „Das fehlt hier. Menschen sind verrückt danach, herauszufinden, welche Geschichten dahinterstecken, was hier gespielt wird.“ Hier wird offenbar nur Bahnhof gespielt: Zu viele Züge – nicht im verkehrstechnischen Sinn. „Züge gibt es hier in dreifacher Hinsicht. Die richtigen Züge, der Zug der Menschen, die schnell durchgehen, und es zieht. Drei Züge. Ich empfehle, auf zwei davon zu verzichten.“

Zur Person

Christian Mikunda
hat Theaterwissenschaften und Psychologie studiert und befasst sich mit der strategischen Dramaturgie, vorwiegend von öffentlichen Plätzen wie Einkaufszentren, Flughäfen und Museen. Mikunda hat gemeinsam mit seiner Frau, Denise Mikunda-Schulz, das Beratungsunternehmen CommEnt gegründet, ist Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Die Neuauflage seines Buchs„Marketing spüren – Willkommen am Dritten Ort“ (Redline Verlag) erscheint am 5. Dezember. www.mikunda.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2015)

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