Missbrauch in Kinderheimen: Wien schließt dunkles Kapitel

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Die Stadtregierung beendet die finanziellen Entschädigungen für Gewaltopfer in städtischen Kinderheimen. Kosten für Psychotherapie werden aber weiter übernommen.

Wien. Im Jahr 2010 gingen ehemalige Zöglinge des Kinderheimes am Schloss Wilhelminenberg in Wien Ottakring mit Missbrauchsvorwürfen gegen Erzieher der Anstalt an die Öffentlichkeit. Spät, denn die Gewalttaten in städtischen Kinderheimen bzw. Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt lagen teils Jahrzehnte zurück. Die Stadt reagierte aber tatsächlich rasch und bemühte sich bald nach Bekanntwerden der Fälle um finanzielle und therapeutische Hilfe für die Opfer: Mehr als 2000 Personen wurden bisher unterstützt. Mit Ende März lässt die Stadt aber nun die Anmeldefrist für Entschädigungszahlungen auslaufen, gab die zuständige Stadträtin, Sonja Wehsely (SPÖ), am Mittwoch bekannt.

Bis zum 31. März können sich Betroffene noch an die Opferschutzvereinigung Weißer Ring wenden, um monetäre Entschädigung zu beantragen. Außerdem wird es Kostenübernahmen von Therapien weiterhin geben. Wehsely betonte, dass es für das erfahrene Leid niemals eine angemessene Entschädigung geben könne: „Ich sehe es als Pflicht der Stadt, das geschehene Unrecht ohne Relativierung anzuerkennen.“ Man habe versucht, die Betroffenen zu entstigmatisieren, ihren Erfahrungen eine Stimme zu geben und ihnen Hilfsangebote zu machen. Trotzdem müsse man irgendwann einmal ein Fristende ansetzen, so die Stadträtin. Den Vorwurf, dass budgetäre Überlegungen für ein Ende der Entschädigungen ausschlaggebend waren, weist Wehsely zurück. Die Therapiekosten würden ja auch weiter übernommen.

Sadistische Bestrafungsmethoden

Bisher wurden 2705 Fälle bearbeitet, in 2048 davon wurde eine finanzielle Unterstützung beschlossen, zog Marianne Gammer, Geschäftsführerin des Weißen Rings, Bilanz. Durchschnittlich bekam jeder Betroffene rund 17.000 Euro – in Summe sind es etwa 36 Millionen Euro. Weiters wurden in 1583 Fällen die Kosten für eine Psychotherapie übernommen, was einem Betrag von 8,9 Millionen Euro entspricht. Die Mehrheit der Vorfälle von psychischer und/oder sexueller Gewalt – über 60 Prozent – fiel in den Zeitraum der 50er- und 60er-Jahre. Im Folgejahrzehnt brachten Heimreformen Besserung.

Zur Aufarbeitung des dunklen historischen Kapitels der Wiener Jugendwohlfahrt hatte die Stadt in den vergangenen Jahren mehrere Studien – u. a. bei der sogenannten Wilhelminenberg-Kommission – in Auftrag gegeben. Die zutage getretenen Vorfälle reichten von sexuellem Missbrauch bis zu sadistischen Bestrafungsmethoden wie dem Aufessen von Erbrochenem. Personell wie methodisch habe sich auch hier eine Fortsetzung der nationalsozialistischen Strukturen gezeigt, betonte Georg Psota, ärztlicher Leiter der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD).

Beim Weißen Ring langten laut Gammer in den vergangenen sechs Jahren 2870 Meldungen von Betroffenen ein – mit rückläufiger Tendenz. Dennoch wurden allein 2015 mehr als 30 Meldungen pro Monat registriert, seit Jahresbeginn 2016 waren es bis dato 67.

Udo Jesionek, Präsident des Weißen Rings, sagte zum Fristende, dass für viele Betroffene nicht der finanzielle Aspekt im Vordergrund stehe, sondern die Erfahrung, dass endlich jemand zuhöre und das Erzählte ernst nehme beziehungsweise glaube.

„Viele Leben sind zerstört worden“, ergänzte Ulla Konrad, Mitglied der Unabhängigen Opferschutzkommission. Untersuchungen zeigten, dass die Betroffenen überdurchschnittlich oft mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hätten, in Frühpension gingen, zerrüttete Beziehungen hätten oder im Gefängnis landeten.

Johannes Köhler, Leiter der MA 11 (Jugendamt), verwies wiederum auf zahlreiche Maßnahmen im Bereich der Jugendwohlfahrt. Es gebe heute keine großen Heime mehr – „das waren furchtbare geschlossene Systeme“ –, sondern nur noch kleine Wohngemeinschaften. (APA/red.)

AUF EINEN BLICK

Zur Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe wurde 2010 die Opferschutzeinrichtung Weißer Ring als Anlaufstelle beauftragt. Die MA 11 gab mehrere historische Studien in Auftrag, um die Geschichte der Pflegekinder zu dokumentieren. Eine Historikerkommission legte 2012 einen umfangreichen Bericht über die Erziehungskonzepte und Organisationsstrukturen in den Wiener Erziehungsheimen vor. Im Juni 2013 präsentierte die Kommission Wilhelminenberg unter der Leitung der Richterin Barbara Helige einen erschütternden Abschlussbericht über das Kinderheim Wilhelminenberg. Insgesamt gab die Stadt Wien in den letzten sechs Jahren 52,5 Millionen Euro für die Aufarbeitung der Vorwürfe aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2016)

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