Analyse: Der Straßenkampf der Jugendbanden

(c) Stanislav Jenis
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Nach Auseinandersetzungen zwischen Afghanen und Tschetschenen sollen fünf Personen in U-Haft kommen. Die Konflikte zwischen beiden Gruppen häufen sich österreichweit.

Wien. Zwei Anzeigen wegen Mordversuchs, fünf wegen schwerer Körperverletzungen, sieben Schwerverletzte im Alter von 14 bis 17 Jahren, davon schwebten bis Montagfrüh zwei in Lebensgefahr – das ist die Bilanz eines Jugendbandenkrieges, der am Samstag am Handelskai in der Nähe der Millennium City im 20. Wiener Bezirk wie berichtet ausgetragen wurde.

Insgesamt 50 Jugendliche und junge Männer aus Tschetschenien und Afghanistan waren in den Konflikt involviert – laut Angaben der Polizei Asylwerber und anerkannte Flüchtlinge. Auslöser der Auseinandersetzung war ein Facebookposting. „Die Afghanen fühlten sich dadurch beleidigt und machten sich zum Jugendzentrum Base 20 am Handelskai auf, das dafür bekannt ist, dass sich hier hauptsächlich tschetschenische Jugendliche treffen“, sagt Polizeisprecher Paul Eidenberger zur „Presse“. Dort sollen sie vor der Tür mit Messern, Holzlatten und Eisenstangen auf die zahlenmäßig unterlegenen Tschetschenen losgegangen sein. Die Sozialarbeiter versuchten erfolglos zu deeskalieren – schlussendlich konnten sie nur noch Erste Hilfe leisten. Ein Großteil der Täter flüchtete, gegen fünf Männer beantragte die Polizei die Verhängung der Untersuchungshaft, ein Mann wurde auf freiem Fuß angezeigt.

Brennpunkt Einkaufszentrum

Die Betreiber der Millennium City haben seit Jahren in und um das Gelände mit Jugendgangs zu kämpfen. „Wir arbeiten eng mit Polizei und Sozialarbeitern, haben unser Sicherheitspersonal verstärkt. Wir überarbeiten unser Konzept derzeit aufgrund aktueller Vorfälle“, sagt Sprecher Alexander Khaelss-Khaelssberg. Neben der Massenschlägerei am Samstag am Handelskai machte das Einkaufszentrum erst Ende Februar Negativschlagzeilen. Vier selbst ernannte tschetschenische Sittenwächter sollen laut Polizei vier Frauen belästigt haben. Sie kündigten an, diese nach Hause begleiten zu wollen – was die Frauen verweigerten. Als Zeugen ihnen zur Hilfe eilten, sollen die Männer auf diese losgegangen sein. Zwei Männer mussten mit Rissquetschwunden ins Spital gebracht werden.

Die Millennium City ist aber nicht das einzige Einkaufszentrum, das mit Jugendbanden zu kämpfen hat: Auch in und um die Lugner City (Rudolfsheim-Fünfhaus), kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Im April 2014 gipfelte ein Konflikt tschetschenischer Jugendgangs in einer Schießerei auf offener Straße. Die Polizei kämpft seit einiger Zeit verstärkt gegen Bandenkriminalität. Im Jänner 2015 gelang ihr ein Coup gegen Wiens größte Jugendgang, die Goldenbergs. Die Köpfe der Bande wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Neben der Tatsache, dass Jugendgangs in den letzten Jahren wieder vermehrt auftreten, fällt auch auf, dass sich die Auseinandersetzungen immer häufiger zwischen zwei Gruppen abspielen: Tschetschenen und Afghanen – in der Venediger Au etwa finden immer wieder Revierkämpfe mit Dutzenden Personen statt. Die tschetschenische Community hat sogar schon einen „Ältestenrat“ gegründet, der sich nun vermehrt um diese Problematik kümmern soll.

Österreichweites Problem

Aber nicht nur in Wien liefern sich die rivalisierenden Gruppen Auseinandersetzungen auf offener Straße: In Salzburg gipfelte der schwelende Konflikt Anfang 2015 in einer Straßenschlacht mit rund 80 Beteiligten am Hauptbahnhofvorplatz. Jugendliche gingen mit Faustfeuerwaffen, Schlagringen und Messern aufeinander los. Nur ein Großaufgebot an Polizei konnte kurz darauf ein ähnliches Szenario verhindern. In Wels, Linz, Graz und St. Pölten kam es zu ähnlichen Situationen.

„Dass ausgerechnet Tschetschenen und Afghanen immer wieder aneinandergeraten, hat auch damit zu tun, dass sie sich in vielem sehr ähnlich sind“, sagt Nikolaus Tsekas, Wien-Chef der Bewährungshilfe Neustart, der die Entwicklung mit Sorge beobachtet. Beide Gruppen kämen aus Ländern, in denen Konflikte seit Jahren durch Krieg ausgetragen werden; Afghanistan und Tschetschenien hätten ähnliche patriarchale Clanstrukturen, die durch Begriffe wie Ehre, Familie und den Kampf dafür geprägt sind. In beiden Communitys gebe es hohe Arbeitslosigkeit gepaart mit niedrigem Bildungsniveau. „Beide haben einen schlechten Ruf – jetzt geht es wohl auch darum klarzumachen, wer die härtesten Jungs hat“, sagt Tsekas.

Dazu kämen wohl aktuell auch die Rolle beider Gruppen im Syrien-Krieg und ein religiöser Konflikt: „Tschetschenen sind meist Sunniten, sie kämpfen aufseiten des IS gegen das syrische Regime, das von Russland unterstützt wird – der Erzfeind vieler Tschetschenen“, sagt Nahostexpertin Tyma Kraitt. „Aufseiten des Regimes finden sich viele afghanische Kämpfer aus der Minderheit der Hazara, von denen besonders viele in Österreich sind. Diese sind Schiiten.“ Beide Experten sind sich einig, dass es besonderer integrativer Anstrengungen bedarf, um weitere Auseinandersetzungen zu verhindern.

DIE COMMUNITYS

Migration. Österreich hat die größte Community an Exil-Tschetschenen. Die meisten sind während der beiden Tschetschenien-Kriege geflohen, die von 1994 bis 1996 und 1999 bis 2009 Schätzungen zufolge 160.000 Tote gefordert haben. Es leben rund 30.000 Tschetschenen in Österreich, 15.000 davon in Wien, die meisten sind Muslime (Sunniten.) Die Afghanen stellten mit Ende des Jahres 2015 die größte Gruppe an Asylwerbern in Österreich – zwei Drittel aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind Afghanen. Viele von ihnen kommen aus der Minderheit der Hazara, sie sind Schiiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2016)

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