Verborgene Stadt: Die Geheimnisse in Wiens Unterwelt

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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In Wiens Erdreich verschwinden nicht nur Bäume, sondern auch Menschen, die verborgene Keller, Gewölbe und Gänge erforschen. Ihr Fazit lautet: „Die Hauptstadt ist auf einem unterirdischen Schatz gebaut.“

Warum die sechs Meter hohe Pappel an der Wiener Ringstraße am Samstag sprichwörtlich im Boden versank, ist noch nicht geklärt. Und obwohl die Ingenieure keinen Hinweis auf einen eingestürzten Hohlraum darunter fanden, holt der rätselhafte Zwischenfall andere Geschichten und Legenden aus dem Hinterkopf des kollektiven Gedächtnisses hervor: Nämlich jene von angeblich riesigen unterirdischen Keller- und Katakombensystemen, die den Untergrund der gesamten Stadt wie einen Schweizer Käse durchlöchern. Geschichten und Legenden, die sich zu einem großen Teil bestätigen lassen.

„Österreichs Hauptstadt ist auf einem unterirdischen Schatz gebaut“, sagt Peter Ryborz, der Mitte der 1990er-Jahre als Erster damit begann, im Rahmen von Fackeltouren zehntausende Menschen durch Wiens Unterwelt zu führen. Die Touren durch die Kanalisation hat der Magistrat Ryborz inzwischen verboten; zu groß war die Versuchung, das Geschäft mit den Wanderungen auf den Spuren des Dritten Mannes selbst zu machen. Im kleinen Kreis und auf privater Basis führt der Untergrundforscher Interessierte aber auch heute noch durch die Eingeweide der Stadt (www.unterwelt.at).

Leichen unter dem Albertinaplatz

Diese unterteilen Experten heute im Wesentlichen in drei Kategorien: Kanalisation, Keller und die Gangverbindungen dazwischen, die zu einem großen Teil aus der Zeit der Nationalsozialisten stammen. Ihrer Erforschung hat sich unter anderem der Historiker Marcello La Speranza verschrieben. „Praktisch der gesamte erste Bezirk ist mit Luftschutzanlagen unterminiert“, sagt der 44-Jährige.

Im Rahmen des sogenannten „Führersofortprogrammes“ wurden uralte Kelleranlagen, die zwischen Römerzeit und Mittelalter entstanden, ausgebaut und mit neuen Gängen miteinander verbunden. Gänge, die beispielsweise vom Tiefkeller des ehemaligen Stadtbeisls in der Naglergasse über mehrere hundert Meter bis zum Schwedenplatz führen. Anfang 2008 legten Bauarbeiter bei der Renovierung des nahe gelegenen Rudolfsplatzes einen Hauptausgang dieses Kellersystems frei. Wie jene am Morzinplatz oder im Burggarten wurde er aber bald wieder zugeschüttet. Die Einstiege in den Kellern der Häuser sind heute meistens zugemauert. Bricht man sie auf, findet man Sanitätsplätze, Uniformteile und die Überreste alter Kommandostände.

Eine düstere Erinnerung an jene Zeit schlummert noch heute unterhalb der Parkfläche des Albertinaplatzes: Dort liegen die Gebeine von 200 Zivilisten begraben, die bei einem Bombenangriff verschüttet und nie exhumiert wurden. Wo genau all diese Gänge, Keller und Katakomben verlaufen, ist nirgendwo zentral dokumentiert. Warum, darüber gehen die Meinungen auseinander. Peter Ryborz etwa glaubt, dass die Stadt die Pläne ganz bewusst geheimhält, um Kriminellen und Terroristen ihr Handwerk so schwer wie nur möglich zu machen. „Wer in Wien baut und tief gräbt, bekommt aus diesem Grund von der Gemeinde nur undetaillierte Pläne eng begrenzter Ausschnitte.“

Kaum Pläne von alten Gewölben

Ein Gedanke, der im Prinzip gar nicht so abwegig ist. Immerhin liegt ein Großteil der innerstädtischen Infrastruktur im Boden vergraben. Wer weiß, wo Strom, Gas, Wasser und auch Computerdaten fließen, und wie man an diese Lebensadern der Stadt herankommt, kann diese auch leicht manipulieren.

Die Baubehörden der Stadt haben jedoch eine andere, mindestens ebenso einleuchtende Erklärung: „Die meisten unterirdischen Bauwerke sind einfach so alt, dass dafür gar keine Pläne mehr existieren“, heißt es etwa beim Straßenbauamt, in dem man oft mit schwierigen Tiefbauarbeiten konfrontiert ist. Weshalb der Ingenieur Wolfgang Ablinger gar nicht zu 100 Prozent ausschließen will, dass der versunkene Baum am Ring nicht vielleicht doch auf einen eingestürzten Hohlraum zurückzuführen ist. Gefunden habe man freilich nichts.

Dafür spricht auch, dass die oft jahrhundertealten Keller im Prinzip sehr stabil, Ryborz sagt sogar, „für die Ewigkeit“, gebaut sind. Die meist mit gebrannten Ziegeln gemauerten Gewölbe reichen deshalb so tief in die Erde, weil sie schon im Mittelalter zum Kühlen von Lebensmitteln verwendet wurden. Wie der knapp 20 Meter tiefe Lenaukeller hinter dem Rathaus. Hier, in der Lenaugasse 11, verteilen sich 2500 Quadratmeter Nutzfläche auf drei riesige Ebenen. Und Keller wie diesen gibt es in der Wiener City zuhauf. Viele von ihnen sollen – wie die Nazi-Stollen – miteinander verbunden gewesen sein. Zur Zeit der Türkenbelagerung waren sogar die Katakomben unter dem Stephansdom mit diesem System verknüpft. Eher ins Reich der Legenden dürfte allerdings jene Geschichte gehören, die von einem unterirdischen Fluchtgang der Habsburger berichtet, der die Hofburg mit Schönbrunn verbunden haben soll.

„Weinfund“ beim U-Bahn-Bau

In der mündlichen Überlieferung der Wiener Untergrundforschung erweist sich so manche Sensation aber doch banaler, als sie eigentlich ist. So sollen Arbeiter beim Bau der U3 entlang der Landstraßer Hauptstraße einst einen vermeintlich vergessenen, mit Wein gefüllten Keller entdeckt haben. Zum Abschluss der Bauarbeiten soll dieser Wein auch getrunken worden sein. Erst später beschwerte sich die geschädigte Vinothek – und forderte erfolgreich Schadenersatz. Bei den Wiener Linien jedenfalls kann man sich – vielleicht auch aufgrund der hohen Kosten – nicht mehr an den „Fund“ erinnern.

AUF EINEN BLICK

Wiens Untergrund ist von tausenden Gängen und Kellern durchlöchert. Die tiefsten (20 Meter) wurden zwischen Römerzeit und Mittelalter errichtet. Die Nazis verbanden viele dieser Keller mit Gängen zu einem gigantischen Luftschutzsystem.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2009)

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