Die Angst der Städter

Walter Fuchs
Walter Fuchs(c) Stanislav Jenis
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Fürchten sich die Wiener heute mehr als früher? Die Indizien dafür mehren sich. Doch welche Faktoren stören die „innere Sicherheit“ am meisten? Ein U-Bahn-„Presse“-Gespräch mit Kriminalsoziologe Walter Fuchs.

In der Luft hängt zwar noch ein Hauch von Marihuana, doch die meisten Parkbänke sind leer. Der Vogelweidpark bei der Stadthalle in Rudolfsheim-Fünfhaus gilt als potenzieller Treffpunkt für Jugendbanden, an diesem Abend ist es aber ruhig. Würde man hier nachts seine 17-jährige Tochter allein durchgehen lassen? Walter Fuchs überlegt kurz und sagt dann: „Ich habe keine Kinder, aber ich glaube schon.“

Fuchs ist Kriminalsoziologe am Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie. Als solchen beschäftigt ihn unter anderem die Frage, was Menschen in Großstädten Angst macht. Die Debatte über Kriminalität sei oft von einer gewissen Doppelbödigkeit gekennzeichnet, sagt Fuchs. Das zeigen Untersuchungen der US-Mittelschicht. Am Töchter-Beispiel festgemacht heißt das: In allgemeinen Diskussionen tritt man dafür ein, dass Frauen nachts allein unterwegs sind und sich nicht einschränken sollen. Geht es aber um die eigene Tochter, ruft man abends ein Taxi. Verständlich, sagt Fuchs, aber gesamt gesehen nicht sinnvoll: „Besser wäre es, Töchter lernen Selbstverteidigung und Situationen zu decodieren. Durch Einschränkung gibt man langfristig die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum auf.“

Das „Presse“-Gespräch mit Fuchs findet in und entlang der U6 und U1 statt. Der Grund: U-Bahn-Haltestellen wie Handelskai oder Praterstern sind in den vergangenen Monaten zur Chiffre für die schwelende Sicherheitsdebatte in Wien geworden. Denn die Wiener fürchten sich mehr als früher, zumindest sprechen einige Indizien dafür: steigende Selbstbewaffnung, steigende Ausgaben für Sicherheitstechnik, und einer Umfrage der Allianz-Versicherung zufolge glauben zwei Drittel der Österreicher, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen zehn Jahren verschlechtert hat.

Wobei, vermutet Fuchs, ein Grund für die wahrgenommene Verschlechterung „die Fallhöhe“ sei. In dem 2007 veröffentlichten Buch „Großstadtängste“ verglichen Forscher das Sicherheitsgefühl in Amsterdam, Budapest, Hamburg, Krakau und Wien. „Wien schnitt dabei so extrem gut ab, dass die Kollegen anfangs dachten, die Daten wären falsch“, sagt Fuchs. Inzwischen nähere sich Wien dem europäischen Durchschnitt an.

Urbanität als Feindbild

Und zwar unter anderem aus genau jenen Gründen, warum Wien einst so gut lag. Denn das „hohe Systemvertrauen“ der Wiener wurde damals etwa auch damit erklärt, dass die Verwaltung, die Infrastruktur funktionierten: die Spitäler, die öffentlichen Verkehrsmittel, der Sozialstaat. Im Umkehrschluss bedeutet das aber: Wenn – wie derzeit – die U-Bahn voller wird und die Mieten höher und die Wartezeiten in Ambulanzen länger werden, schwindet dieses Vertrauen, und die Unsicherheit steigt. „Kriminalität ist oft eine Projektionsfläche für verschiedene Ängste“, sagt Fuchs.

Und von denen gibt es viele: Der Bogen reicht von Angst vor IS-Terror über Sorgen wegen der Asylsituation bis zu einem generellen Unbehagen über die rasche Veränderung der Gesellschaft, die wiederum insbesondere Städte betrifft: „Manchmal wird die Urbanität an sich zum Feindbild“, sagt Fuchs.

Natürlich wirkt sich auch die Kriminalität im engeren Sinne auf die gefühlte Sicherheit aus. Jedoch anders, als man vielleicht denkt. Wissenschaftlich lässt sich nämlich kein direkter Zusammenhang zwischen Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsstatistik nachweisen. Letztere ist für Wien ambivalent: 2015 gingen die Straftaten österreichweit auf einen langjährigen Tiefstand zurück, allerdings weisen die Rohdaten für 2016 wieder auf einen Anstieg hin. Gerade in Städten.

Für das eigene Befinden, sagt Fuchs, zähle aber ohnehin etwas anderes als nüchterne Zahlen, nämlich etwa die eigenen Beobachtungen im Stadtbild: offener Drogenhandel, Bettler oder junge Männer, die fremd aussehen und in Gruppen herumstehen. Auch wenn diese nichts Kriminelles machen, irritieren sie. Etwa indem sie Frauen nachschauen oder Bemerkungen machen. Nach der sexuellen Gewalt in Köln wird eine migrantische Machokultur verstärkt als bedrohlich empfunden. Wobei das Phänomen nicht neu ist: „Einiges, was man heute über junge Flüchtlinge oder Migranten sagt, hat man früher in den USA über irische und italienische Einwanderer gesagt“, so Fuchs. Und das nicht ganz ohne Grund: In der Kriminalitätsstatistik tauchen junge Männer generell am häufigsten als Täter auf.

Sie werden aber auch am häufigsten Opfer. Trotzdem fürchten sich junge Männer am wenigsten – weil das eigene Sicherheitsgefühl eben nicht mit objektivem Risiko korreliert. Stattdessen ängstigen sich jene am meisten, denen am seltensten etwas passiert: Frauen und vor allem ältere Menschen. Kriminalitätsfurchtparadoxon nennen das die Soziologen, wobei Fuchs Verständnis für die subjektive Logik der Betroffenen hat: „Im Fall des Falles sind diese Gruppen oft verletzlicher.“ Was auch noch Einfluss auf die innere Sicherheit hat: der Medienkonsum. Es ist wissenschaftlich gesichert, dass sich Menschen mehr fürchten, die verstärkt Zeitungen lesen, die grell aufgemacht über Verbrechen berichten: „Polemisch zugespitzt könnte man sagen: Wenn man die Verteilung von Gratisboulevard in der U-Bahn unterbindet, wäre das vermutlich ein Beitrag zum Sicherheitsgefühl in der Stadt“, sagt Fuchs.

Künstliche Dorfgemeinschaft

Der freilich nicht der einzige sein kann: Wenn es darum geht, die Sicherheit zu stärken, empfiehlt Fuchs Vertrautes: eine maßvolle Polizeipräsenz oder punktuell auch den Einsatz von Videoüberwachung. Ambivalent sieht Fuchs die aktuellen Community/Polizei-Projekte. Einerseits sei mehr Bürgernähe bei der Polizei positiv, andererseits bringe es Risken mit sich, Sicherheitsbürger zu ernennen: „Die Aufgabe oszilliert zwischen Blockwart und Zivilcourage – ich weiß nicht, ob es das eine ohne das andere gibt.“ Er bezweifelt außerdem, dass man „die Idee einer dörflich definierten Gemeinschaft in der Großstadt künstlich installieren kann“. Mit dem Projekt werde halt „Tätigkeit vorgeschützt“. Ein wenig, findet Fuchs, gelte das auch für den politischen Diskurs über Kriminalität, bei dem wenig über die Ursachen geredet werde: „Das hat vor allem damit zu tun, dass deren Bekämpfung sehr aufwendig ist.“ Daran seien auch politisch linke Ansätze zur Sicherheitspolitik bisher gescheitert: „In den Neunzigern wurde in Großbritannien die Formel ,tough on crime and tough on the causes of crime‘ (Anm.: hartes Vorgehen gegen Kriminalität und auch deren Ursachen) entwickelt. Es blieb aber bei der ersten Hälfte.“

Hat Fuchs selbst eigentlich manchmal Angst in Wien? „Nicht mehr“, meint er, „vor ein paar Jahren war das anders. Da hat im Nachtbus ein betrunkener Rapid-Fan randaliert und ,Heil Hitler‘ gerufen. Meine Partnerin und ich sind eingeschritten, und er hat mir mit der Faust aufs Auge geschlagen. Danach bin ich einige Zeit lang nicht mehr mit dem Nachtbus gefahren.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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