Obdachlose: Eine Schüssel voll Wertschätzung

Ernst H. mag selbst gekochtes Essen.
Ernst H. mag selbst gekochtes Essen.(c) Valerie Voithofer
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Freiwillige schenken jeden Abend Suppe an Obdachlose aus. Eine nächtliche Fahrt mit dem Canisi-Bus und eine Reise durch Lebensgeschichten von Menschen, die alles verloren haben.

Ernst H. ist ein großer Fan von selbst gekochtem Essen. „Man schmeckt das, wenn nicht irgendeine seelenlose Maschine das Gemüse geschnitten hat – und wenn ein echter Mensch mit Liebe umgerührt hat.“ Davon ist er überzeugt. Nicht zuletzt deswegen kommt er oft hierher zum „Wirten“ seines Vertrauens zur Philadelphiabrücke in Meidling und stellt sich dort dann geduldig in einer langen Schlange an.

Auch an diesem Abend ist der 63-Jährige wieder sehr zufrieden mit dem, was er aufgetischt bekommt: einer kräftigen Rindsuppe mit viel Gemüse und Nudeln. Sie wurde von freiwilligen Suppenköchen der Caritas zubereitet, die mit dem Canisi-Bus 365 Tage im Jahr herumfahren, um die Obdachlosen dieser Stadt mit zumindest einer warmen Mahlzeit am Tag zu versorgen. Rund 100.000 Portionen wurden 2015 verteilt – ein trauriger Rekord, der wohl dieses Jahr wieder gebrochen wird. „Wir spüren die steigende Arbeitslosigkeit sehr“, sagt Josef Heinzl (31), der das Projekt leitet und der einzige Angestellte ist. Er wird von mehr als 100 Freiwilligen unterstützt. Ernst H. und seine Freunde nennt er nicht Klienten, sondern Gäste. „Viele dieser Menschen haben kaum noch etwas, wir wollen ihnen mit einem selbst gekochten Essen etwas Wertschätzung entgegenbringen“, sagt Heinzl. In Zeiten, in denen man nur nach Leistung bewertet werde, sei das für all jene, die aus dem System herausfallen, wichtiger denn je. Wie viele Obdachlose es in Wien genau gibt, ist schwierig zu beziffern. Die Caritas spricht „von einigen hundert“, die akut obdachlos sind – also draußen auf der Straße oder in Notschlafstellen die Nacht verbringen. Es sind einige Tausende, wenn man jene Menschen dazurechnet, die in einer Notunterkunft der Stadt untergekommen sind.


Hotel Bahnhof. Ursula hat es bisher nicht geschafft, einen längerfristigen Platz zu bekommen. Die 60-jährige Ungarin lebt seit 1998 in Österreich und war bis vor vier Jahren als Küchenhilfe in unterschiedlichen Betrieben tätig – der, bei dem sie zuletzt arbeitete, sperrte zu, ihre Eltern, die ebenfalls in Wien lebten, starben, Ursula fand keinen Job mehr. Sie konnte sich die Wohnung nicht mehr leisten, Rechnungen nicht mehr bezahlen, bekam Probleme mit dem Gesetz. Nachdem sie einige Tage im Gefängnis war, lebte sie plötzlich auf der Straße. Ihr neues Zuhause ist der Hauptbahnhof: „Das ist mein Hotel“, sagt sie, als die „Presse am Sonntag“ sie dort beim nächsten Halt des Canisi-Busses zum Abendessen trifft. Dort sei es warm, auch am Abend. Wenn jemand sie vertreiben will, behauptet sie, auf einen Zug nach Ungarn zu warten. Ursula hat keine Zähne mehr, eine Prothese ist für sie zu teurer – aber sonst deutet äußerlich wenig darauf hin, dass sie obdachlos ist. Sie ist eine gepflegte Frau. „Nur weil man draußen schläft, muss man nicht ausschauen wie ein Sandler“, sagt sie.

Bei Viktoria (19) und Christian (21) ist ihre Situation kaum zu übersehen. Das junge slowakische Pärchen besucht den Canisi-Bus beim Karlsplatz, wo sie im Gebüsch schlafen – möglichst verborgen vor den Blicken anderer Menschen. „Manche rufen die Polizei, die dann kommt und uns vertreibt, manchmal sind Hunde dabei“, sagt Christian. Das Wärmste, das er am Körper trägt, ist ein Baumwoll-Kapuzenpullover. Auch Winterschuhe, einen Schal oder eine Haube haben weder er noch seine Freundin – genauso wenig einen Schlafsack. Bis zu einem gewissen Grad sind sie gegen die Kälte abgehärtet, immerhin nächtigen sie schon seit Jahren im Freien. Christians Mutter gab ihn ins Heim, als er drei Jahre alt war, seinen Vater kennt er nicht. Er ging nie zur Schule, erzählt er in gutem Deutsch. Er spricht außerdem Ungarisch, Polnisch und Tschechisch – das habe er gelernt, weil er in allen diesen Ländern schon als Kind zum Betteln war, Arbeit gesucht hat. Sein großer Traum: 3000 Euro zusammenzukratzen – für das Geld könnten sie ein kleines Haus in der Slowakei kaufen, wie eine Familie leben. Momentan ist der einzige Luxus, den er sich leisten kann, ein tägliches Stück Schokolade für seine Freundin. „Ich gehe jeden Tag in den Supermarkt und kaufe eines, egal, wie wenig Geld ich habe“, sagt Christian. Viktoria liebt Süßes.


Gemeinsames Essen. Es ist halb zehn Uhr Abend, es hat minus drei Grad. Der letzte Stopp der täglichen Route des Canisi-Busses ist in einem Skaterpark nahe dem Westbahnhof. Müde Gestalten kommen aus Verstecken hinter den Rampen, erheben sich von den Parkbänken, wo sie schon gewartet haben. Die letzten Reste Suppe werden ausgeschenkt, auch die Fahrer essen nun eine Portion. Man unterhält sich über dies und das, darüber, wie der Tag so war – und wie der nächste wohl sein wird.

Spenden

Hilfe gefragt. Dieser Ausgabe liegt ein Zahlschein bei. Für 1,30 Euro ermöglichen Sie einem Obdachlosen eine Portion Suppe mit Brot. Für fünf Euro können zehn neue Suppenschüsseln angeschafft werden. Eine Tagesausfahrt des Canisi-Busses (Benzin, Lebensmittel etc.) kostet 360 Euro.

Kontodaten. Erste Bank. Empfänger: Caritas der Erzdiözese Wien – Hilfe in Not SO 1129. IBAN: AT47 2011 1890 8900 0000
BIC: GIBAATWWXXX Zweck: Spende Canisibus

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2016)

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