360 Grad Österreich: Der unperfekte Prater

Grad oesterreich unperfekte Prater
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Diesmal Frühlingim Wiener Wurstelprater. Eine beschauliche Geisterbahnfahrt durch eine Welt, die noch genau zwischen "drinnen" und "draußen" unterscheidet. Und wo das Vulgäre zum guten Ton gehört.

Lichtvoll bricht die Sonne durch die alten Praterbäume – und das war's dann schon mit Heimito von Doderer. Über den ersten Satz der ersten Strophe kommen wir nicht hinaus. Es gibt hier keine weißen Tische, keine „golddurchschossnen Räume“, keinen „purpurblutenden“ Sonnenuntergang hinter „schweren Wipfeln“. Es gibt viel Lärm, grelles Licht, lautes Geschrei und den Geruch von altem Speiseöl.

Wir sind hier weit weg von der Idylle, die der große österreichische Autor in seinem Gedicht „Praterabend“ beschreibt. Wir sind mitten im Wurstelprater, und der hat nichts mit Lyrik zu tun, der ist Prosa pur. „Burli, wennst net sitzen bleibst, setzt's a Watschn“, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Unklare Warnungen kann man dem Betreiber des Autodroms nicht nachsagen, und auch nicht mangelnde Durchsetzungskraft. Der Jugendliche, der eben noch übermütig auf dem Kart herumturnte, setzt sich nieder, und die Ordnung ist wiederhergestellt, soweit man sie hier eben herstellen kann.

Der Wurstelprater, benannt nach dem „Hanswurst“ von Schauspieler Josef Stranitzky, ist der Vergnügungsteil der „Reservation am Rande des täglichen Lebens“, wie Doderer den Prater nannte. Die „Reservation“ ist eine Welt für sich, seit Joseph II. 1766 per Dekret „jeder mann erlaubet, spazieren zu gehen, zu reiten und zu fahren, sich daselbst mit Ballonschlangen, Kegelscheiben und anderen erlaubten Unterhaltungen zu divertieren“. Bis zu diesem „Avertissement“ war die Grünanlage dem Adel vorbehalten.

Mit sechs Quadratkilometern ist der Prater fast doppelt so groß wie der Central Park in New York, und zweifellos mehr als doppelt so lustig. Für vieles, was hier unter die Kategorie „Spaß“ fällt, würde man in den USA ins Gefängnis gehen. Es gibt nicht nur den Vergnügungsbereich, es gibt einen See mit einer verschrobenen Hütte, in der stets Schlager gespielt werden; eine Trabrennbahn; einen Platz für die wenigen Baseball-Spieler in Österreich; ein Spielareal, in dem an sonnigen Wochenenden dutzende Kindergeburtstage gefeiert werden. Es gibt die Prater-Allee, mit 4,4 Kilometern Länge der physische und vor allem psychische Test für alle Langstreckenläufer; das Stelzen-Mekka „Schweizerhaus“ mit seinen 1000 Sitzplätzen im Nussbaum-Garten. Es gibt Plätze, von denen man sich mit Kindern besser fernhält, und es gibt Plätze, die sie anziehen wie der Rattenfänger von Hameln.

Familiensache. „Schon mein Opa hat sich dort drinnen gefürchtet“, meint der Wiener mit Blick auf die Geisterbahn, vor der bewegungslos ein Gorilla steht, während oben zwei Teufel über einem Totenkopf wippen. An einer Hand hält der Mann seine kleine Tochter, in der anderen eine riesige Zuckerwatte. Mit Opa übertreibt er vielleicht, aber sein Papa dürfte es schon gewesen sein: 55 Jahre ist die Geisterbahn alt, und fürchten muss man sich als Erwachsener nur davor, dass sie einstürzt.

„Es ist vielleicht nicht alles perfekt hier und nicht auf dem neuesten Stand, aber das macht eben den Prater aus“, sagt Katja Kolnhofer. Ihr gehören die Geisterbahn und noch ein paar andere „Fahrgeschäfte“. Kolnhofer ist im Prater geboren, aufgewachsen und vor drei Jahren zurückgekehrt. Davor war sie „draußen“, wie sie es nennt. Aber das habe ihr nicht zugesagt. Wer glaubt, dass die Besitzer von Geisterbahn, Achterbahn oder Schießbuden nur vorbeikommen, um das Geld abzuholen, der irrt. „Ich bin jeden Tag da“, sagt Stefan Sittler-Koidl, einer der Großen im Wurstelprater. Nicht dank harter Geschäftskriege, er hat bei den Habsburgern Anleihen genommen - und die Konkurrenz geheiratet. Seit Sittler auch ein Koidl ist, gehören der Familie ungefähr 30 „Fahr-“, „Stand-“ und „Überkopfgeschäfte“.

Der 31-jährige Sittler-Koidl ist ein Praterunternehmer, wie man ihn sich vorstellt. Schlagfertig, aufgedreht, ein wenig goscherter als andere. Zwei seiner Kinder sind direkt im Prater geboren, beim Betreiberhaus des Blumenrads. In seiner Brust schlage ein „Praterherz“. Und das schlägt etwas schneller, wenn „jemand glaubt, er muss uns sagen, wie wir unser Geschäft machen sollen“. Wenn die Stadt Wien beispielsweise mit einem Franzosen daherkommt, „der uns erklärt, wo wir welche Attraktionen aufstellen sollen. Das brauchen wir nicht. Wir wollen einfach Spaß vermitteln.“ Die Aversion gegen Modernes und Neues mag auch aus einem Selbsterhaltungstrieb stammen. Das Geld für jährlich neue Attraktionen hat man nicht, und um einen Themenpark wie Disney World zu schaffen, müssten die Alteingesessenen ihre Geschäfte an einen Großinvestor abtreten – so man einen findet. Man setzt also auf das, was man teils seit Jahrzehnten hat, auch wenn die Folge ein Schmuddelimage ist, das abends zwielichtige Figuren anzieht.

Bissl gefährlich, bissl erotisch. Gerade dieses Vulgäre, Verruchte, das „bissl Gefährliche, auch Erotische“ mache den Prater aber aus, meinte der Entertainment-Spezialist Christian Mikunda, als er vergangenes Jahr für die „Presse am Sonntag“ den Vergnügungspark besuchte. Man muss nur an einem Samstagabend herkommen, wenn die Familien weg sind, um zu erleben, wovon er spricht: Es ist ein Sammelsurium aus lauten und stillen Alkoholikern, testosterongetriebenen Jugendlichen, aus Überlebenskünstlern, leichten Damen, aus Strizzis, Hallodris, und dazwischengestreut flanieren verloren Touristen und Wiener.

„So ist eben Wien“, meint Sittler-Koidl. „Wir sind kein Soziotop, wir ziehen alle Schichten an.“ Das schafft auch Originale, die freilich weniger werden. Der „Prater-Heinzi“ etwa ist in die Jahre gekommen. Er ist legendär, seit er vor vielen Jahrzehnten einem Bauern das ganze Geld abnahm, mit dem der eigentlich einen neuen Traktor kaufen wollte. Oder „der Oberländer“, der in den Prater kam, um billig die Geisterbahn auszumalen und noch immer da ist. Nicht mehr zum Malen, sondern als Betreiber.

Er ist nach dem kritischen Urteil von Thomas Sittler ein „echter Prater-Unternehmer“. Einer, der kämpfe, um zu überleben; der sich die Attraktionen gut überlegen müsse, für die man als Betreiber 15, 20 Jahre Laufzeit kalkulieren müsse. Nicht wie die, die mit den Casinos Geld gemacht hätten und sich „jeden Schmarrn“ leisten können, sagt Sittler und spuckt die Worte regelrecht aus. Zur Ehre eines Praterunternehmers gehört es offenbar, knapp am Ruin zu kalkulieren.

Wie schnell sich im Vergnügungsgeschäft das Blatt wenden kann, haben viele Praterbetreiber erlebt. Einmal die falsche Achterbahn gekauft, auf der niemand fahren will, und schon ist man Firmengeschichte. Oder man will nicht mehr, wie die Schaafs. Vor zehn Jahren war die Familie einer der größten Unternehmer, heute steht Gottfried Schaaf einsam in seiner Schießbude. Irgendetwas anderes zu machen, könne er sich aber nicht vorstellen.

Der Prater ist eben sein eigenes Stimulans. Wie für Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, dem ernste Bedenken am Selbstmord, zu dem ihn seine Ehre verpflichtet, kommen, als er durch den Prater spaziert, die Luft genießt und die Frühlingsblumen riecht: „Man sollt“, schlussfolgert Leutnant Gustl, „öfters bei der Nacht in'n Prater gehn.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2011)

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