Missbrauch: Was wusste die Stadt Wien?

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Das Erziehungsheim am Wilhelminenberg war kein Einzelfall. In vielen anderen städtischen und privaten Einrichtungen waren die Zustände ähnlich, sagt die ehemalige SPÖ-Nationalratsabgeordnete Irmtraut Karlsson.

Wien. „Totale Institutionen“ mit 24-Stunden-Überwachung, aus denen keine Information nach außen dringt und in denen Gewalt und Demütigungsrituale zum Alltag gehören. So beschrieb die ehemalige Nationalratsabgeordnete Irmtraut Karlsson (SPÖ) in ihrem der „Presse“ vorliegenden Buch „Verwaltete Kinder“ aus dem Jahr 1974 die Heime der Stadt Wien. 14Anstalten bezeichnete sie sogar als „Kindergefängnisse“.

Zwei Jahre lang untersuchte sie als Beamtin der Stadt Wien insgesamt 34 städtische und private Heime. Mit ihren Protokollen sei sie aber beim zuständigen Jugendamt (MA11) auf taube Ohren gestoßen. Sie enthalten Formulierungen wie „Ausweis- und Geldlosigkeit der Insassen bedingen das Gefühl des Ausgeliefertseins“ und „14 von 34Heimen entsprechen dem Konzept der totalen Institution mit allen im Bericht besprochenen Folgen“.

Veröffentlicht wurde die Studie schließlich in einer anonymisierten Fassung. Die Heime durften auf Anordnung der Stadt nicht beim Namen genannt werden, sondern wurden durch Nummerncodes ersetzt. In der Studie wird beispielsweise beschrieben, wie in einem Heim für schwer erziehbare Mädchen die Kinder ihre Post öffnen und laut vorlesen mussten. In einem anderen Mädchenheim arbeiteten sie nachmittags als Näherinnen und erhielten dafür einen maximalen Monatslohn von 100 Schilling (7,30Euro). Versichert waren die Mädchen nicht. In einem Knabenheim hingegen fiel auf, dass die Burschen mit zerschlissener, notdürftig geflickter Kleidung ausgestattet wurden. Offenbar wurden die Kleider nicht ausgetauscht, weil sonst der Verwalter der Kleiderkammer (nicht näher definierte) Schwierigkeiten bereitet hätte.

Zudem, heißt es, durften in zehn – von 24 – Heimen die Zöglinge nicht frei über ihr Taschengeld verfügen (bei Hauptschülern waren das etwa 30Schilling – rund zweiEuro – im Monat).

Wenig Kontakt mit Eltern

„Wir sind ein Endstationenheim“. Diesen Satz hätten Heimleiter öfter gesagt, heißt es in der Studie. Das Heim wurde oft als nicht mehr denn eine Anstalt gesehen, in der die Kinder nichts anstellen und vor allem nicht kriminell werden konnten. Insgesamt sechs Heime waren durch Mauern oder Zäune von der Außenwelt abgeschottet, bei zehn waren die Fenster versperrt. Eine Heimleiterin rechtfertigte den seltenen Kontakt mit der Außenwelt damit, dass die Kinder bei Elternbesuchen ganz aufgekratzt und anschließend „schwieriger zu behandeln“ seien. Eine weitere Heimleiterin sorgte mit einer Hundepfeife für Ruhe, wiederum eine andere gab während des Essens die Reihenfolge der Bissen vor: Knödel, Kraut, Wurst.

„Wie in einem Gefängnis“

Konsequenzen für die Heimleitung gab es keine. „Körperliche und seelische Gewalt hatte in diesen Heimen System“, sagt Karlsson am Mittwoch im Gespräch mit der „Presse“. „Die Verantwortlichen wussten von den Vorgängen – ich verstehe nicht, warum sie das jetzt leugnen.“ Es sei alles bekannt gewesen, nur habe sich niemand darum gekümmert.

An ihren Besuch im Schloss Wilhelminenberg könne sie sich noch genau erinnern. „Die Räumlichkeiten mit all ihren Absperrungen hatten etwas Beengendes, wie in einem Gefängnis“, so Karlsson. Der Wilhelminenberg sei aber kein Einzelfall gewesen. So habe sie in anderen Heimen mehrfach beobachtet, wie Kinder Demütigungen ausgesetzt waren. Beispielsweise hätten sie beim Essen kein Wort sagen dürfen und sofort aufspringen müssen, wenn eine Erzieherin den Raum betrat. In einer Anstalt habe es als Pranger-Strafe mitten im Schlafraum eigene Betten für Bettnässer gegeben.

„Die privaten Heime waren teilweise noch schlimmer als die städtischen“, betont Karlsson. Einmal sei sie sogar Zeugin eines sexuellen Übergriffs geworden. „Im Heim Altenberg in Niederösterreich saß der Anstaltsleiter in einer finsteren Kammer und hatte gerade ein kleines Mädchen auf seinem Schoss, als ich den Raum betrat“, erinnert sich Karlsson. „Sobald er mich bemerkte, schubste er es runter und scheuchte es weg, das Mädchen lief verstört davon.“ Nachdem sie die Stadt davon unterrichtet habe, seien diesem Heim keine Kinder mehr zugewiesen worden – geschlossen wurde es aber erst 1980.

Vorwürfe schon länger bekannt

Im Zusammenhang mit den Misshandlungsvorwürfen im Kinderheim am Wilhelminenberg kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die Vorwürfe auch in ihrer Dimension den Behörden schon seit geraumer Zeit bekannt sind. Die Gemeinde Wien hat der Staatsanwaltschaft Wien bereits am 17.August 2010 zur strafrechtlichen Prüfung ein Konvolut mit 72Fällen weitergeleitet, wobei darin auch Schicksale von früheren Zöglingen in anderen Einrichtungen der Gemeinde Wien dokumentiert sind.

Die Anklagebehörde hat die Schilderungen der seinerzeit misshandelten Kinder überprüft und dürfte den Großteil mittlerweile wegen Verjährung eingestellt haben. So etwa jenen Fall, in dem eine Frau, die ab 1955 am Wilhelminenberg untergebracht war, auf Dutzenden handgeschriebenen Seiten beschreibt, wie sie etwa mit nassen Fetzen geschlagen und einem Stock verprügelt wurde.

Von dieser Frau stammt auch die Schilderung, sie habe mit eigenen Augen wahrgenommen, wie eine Lehrerin in einem Klassenzimmer ein Mädchen verprügelte, das an den Folgen der Züchtigung gestorben sein soll. Bei der Staatsanwaltschaft Wien aber war und ist kein Verfahren wegen Mordverdachts anhängig. „Es gibt kein Opfer“, stellte Behördensprecher Thomas Vecsey klar.

Auch der „Kurier“ berichtete am Mittwoch in einer Aussendung von einer „Wende“ und von einem „Todesfall, der keiner war“. Und weiter: „Das totgeglaubte Heimkind lebt.“ Dazu der Sprecher der Staatsanwaltschaft: „Ob das so ist, entzieht sich unserer Kenntnis.“

Stadt geht in die Offensive

Jene Kommission, die die Missbrauchsvorfälle im Schloss Wilhelminenberg aufarbeiten soll, werde übrigens Ende der Woche stehen, sagte der zuständige Stadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ). Das begründete er mit der „neuen Dimension“ der Vorwürfe. Die Stadt will sich damit auch gegen die Vorwürfe wehren, sie trage durch Vertuschung Mitschuld an den Jahrzehnte zurückliegenden Fällen.

Unterdessen setzt sich die ÖVP für die Einberufung einer Sondersitzung des Landtags ein. „Wir verlangen die vollständige Klärung der politischen Verantwortung dieses Skandals. Dafür ist uns der einberufene Sondergemeinderatsausschuss allein zu wenig“, so die Landesparteiobfrau der ÖVP Wien, Gabriele Tamandl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2011)

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