Mehr Ordinationen, weniger Ambulanzen

Besucht wegen der deutlich kürzeren Wartezeiten lieber eine Gruppenpraxis als eine Spitalsambulanz: Heinz Tomek.
Besucht wegen der deutlich kürzeren Wartezeiten lieber eine Gruppenpraxis als eine Spitalsambulanz: Heinz Tomek.Die Presse
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Damit die überfüllten Spitalsambulanzen entlastet werden, muss der niedergelassene Bereich massiv gestärkt werden. Dafür braucht es nicht nur attraktivere Ordinationszeiten, sondern auch neue Zusammenarbeitsformen.

Diese Zahl muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: 80 Prozent aller Patienten, die in Wien eine Ambulanz aufsuchen, brauchen die Infrastruktur eines Krankenhauses gar nicht. Sie könnten genauso gut zu einem niedergelassenen Arzt gehen. Tun sie aber nicht, weil sie über Jahrzehnte hinweg regelrecht dazu erzogen wurden, lieber Ambulanzen als niedergelassene Ärzte aufzusuchen. Was angesichts der, sagen wir, Umstände, die ein Ordinationsbesuch oft mit sich bringt, kaum verwunderlich ist: Zum einen haben die meisten kurze und unattraktive Öffnungszeiten, was großteils der gedeckelten Abgeltung der Leistungen durch die Gebietskrankenkasse geschuldet ist. Selbst, wenn die Ärzte länger offen hätten und mehr arbeiten würden, könnten sie gar nicht mehr verdienen.

Zum anderen ist in Österreich die Fachabgrenzung relativ streng – Mediziner dürfen also in ihren Ordinationen viele Untersuchungen bzw. Behandlungen gar nicht vornehmen und müssen ihre Patienten daher überweisen, was für diese einen Spießrutenlauf bedeuten kann. Das vielleicht größte Problem ist das veraltete Honorierungssystem – wodurch sich für niedergelassene Ärzte viele Behandlungen nicht lohnen und sie die Patienten wiederum an andere Ordinationen oder in eine Ambulanz überweisen. Um dieses Phänomen zu verdeutlichen, nennt der Wiener Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer gern das Beispiel eines Patienten, der mit einer Warze seinen Hausarzt aufsucht. Dieser könnte die Warze entfernen, macht es aber nicht, weil es sich für ihn finanziell nicht auszahlt. Also überweist er ihn zu einem Hautarzt, der Warzen entfernt. Der enttäuschte Patient allerdings geht zu einem anderen Hautarzt, weil dieser einfacher erreichbar ist oder bessere Öffnungszeiten hat. Dieser Arzt entfernt aber keine Warzen und überweist ihn in eine Spitalsambulanz, wo die Warze endlich in wenigen Minuten abgetragen wird. Wenig überraschend verliert der Patient sein Vertrauen in niedergelassene Ärzte und sucht das nächste Mal von sich aus eine Ambulanz auf.


„Immer für Sie da.“ Sogar die Ärztekammer, die zuletzt wiederholt die Aufwertung von Ordinationen durch beispielsweise mehr Kassenverträge forderte, motivierte die Bevölkerung lange Zeit dazu, vermehrt Ambulanzen aufzusuchen. Zuletzt 2009 mit der Imagekampagne „Die Wiener Spitalsärzte sind immer für Sie da!“. Damit wurde Patienten suggeriert, dass sie mit jedem noch so kleinen Problem in eine Spitalsambulanz gehen können, weil sie dort sämtliche medizinische Leistungen an einem Ort vorfinden und sie – mit etwas Wartezeit – auch gleich in Anspruch nehmen können. Was im Lauf der Jahre zu großen Ressourcenproblemen in Wiener Krankenhäusern geführt hat.

Denn in den massiv überlasteten Ambulanzen wird es für Ärzte immer schwieriger, jene Patienten herauszufiltern, die dringend Hilfe benötigen. Bei vielen Erkrankungsbildern wie etwa einem Herzinfarkt oder Schlaganfall spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dennoch kann es vorkommen, dass Patienten, die mit Brustschmerzen eine Ambulanz aufsuchen und tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten haben, länger auf ihre Behandlung warten als jemand, der sich in den kleinen Finger geschnitten hat.

„Eine funktionierende Struktur im Gesundheitssystem sollte gewährleisten, dass der richtige Patient zur richtigen Zeit beim richtigen Arzt ist“, sagt Gernot Rainer, Lungenfacharzt im Otto-Wagner-Spital und einer der Ärzte des Privatärztezentrums Imed19 in Döbling. „Und dafür braucht es ein gezieltes Lenken der Patientenströme.“

Zudem haben die vielen Patienten in den Ambulanzen zu einer Kostenexplosion im Gesundheitssystem geführt. „Das Krankenhaus ist die letzte Entscheidungsinstanz“, betont Rainer. Hier müsse unter Aufwendung aller diagnostischen Mittel (bildgebende Verfahren wie Computertomografie und Magnetresonanztomografie) die höchste Diagnosesicherheit herrschen. „In Zeiten der Absicherungsmedizin führt das aber zu einem überbordenden Einsatz der Möglichkeiten – einfach, weil sie vorhanden sind und man als behandelnder Arzt auf Nummer sicher geht, wenn man sie auch nutzt.“ So sei das System Krankenhaus zu einem großen Teil damit ausgelastet, seine Ressourcen mit Patienten zu verbrauchen, die diese nicht benötigen. „Daher muss es im niedergelassenen Bereich zu einer ärztlichen Selektion der Patienten kommen, damit eine Spitalsambulanz nur aufgesucht wird, wenn die nachgeschalteten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten auch wirklich benötigt werden.“ So könnten nicht nur Kosten eingespart, sondern auch Patienten schneller und effizienter geholfen werden.

Damit es so weit kommt, braucht es eine massive Stärkung des niedergelassenen Bereichs. Dafür muss laut Internist und Kardiologe Martin Schillinger, Gründer von Imed19, das Finanzierungssystem der Kassen mit Deckelungen für Honorare und Patienten reformiert werden. Zudem brauche es mehr Flexibilität für moderne Zusammenarbeitsformen wie Gruppenpraxen. Und nicht zuletzt müssten die Schnittstellen zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Ambulanzen verbessert werden. „Das funktioniert bisher nur durch den persönlichen Einsatz von Einzelnen, was schade ist. Die Zusammenarbeit gehört standardisiert“, sagt Schillinger. „Wenn ich einen Patienten mit speziellen Fragestellungen in eine Klinik schicke, kann es nicht sein, dass dort zur Sicherheit dieselben Untersuchungen ein zweites Mal gemacht werden – mit demselben Befund. Das ist eine Tortur für die Patienten.“

Patienten wie Heinz Tomek. Der 75-Jährige hat die Vorteile einer Gruppenpraxis im Lauf der Jahre zu schätzen gelernt. „Man macht sich einen Termin aus und kommt ohne Verspätung dran. Zudem werden alle Untersuchungen im selben Haus gemacht“, sagt der Pensionist. „Natürlich kommt es zu Wartezeiten, wenn man zu mehreren Ärzten muss. Aber im Vergleich zu den Ambulanzen ist ein Besuch hier ein Spaziergang.“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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