Die Flucht in Wahlarztordinationen

(c) Stanislav Jenis
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Wegen kurzer Wartezeiten auf Termine und der persönlicheren Betreuung weichen Patienten zunehmend auf Privatordinationen aus. Diese werden dadurch immer lukrativer.

Wien. Ein typischer Besuch bei einer Kassenordination in Wien: Nachdem vor rund einem halben Jahr ein Termin vereinbart worden ist, wird man von der Ordinationsassistentin aufgenommen. Sie überprüft die Daten auf der E-Card und bittet, kurz im Warteraum Platz zu nehmen. 15 Minuten später wird man von einer anderen Assistentin aufgerufen und in ein Nebenzimmer begleitet, wo nicht etwa der Arzt, sondern sie selbst die erste Anamnese durchführt. Wo genau sind die Schmerzen? Seit wann haben Sie diese Beschwerden? Gibt es eine familiäre Vorbelastung? Der Ablauf ist meist gleich.

Die Antworten tippt sie in den Computer und fordert erneut auf, sich ins Wartezimmer zu begeben. Weitere 15 Minuten später darf man endlich zum Arzt ins Behandlungszimmer. Man will ihm natürlich erzählen, warum man hier ist, aber das weiß er schon, schließlich hat er bereits die auf das medizinisch Nötigste zusammengefassten Notizen seiner Assistentin gelesen. Also beginnt er sofort mit Untersuchungen wie Abtasten, Abhören, Ultraschall und dergleichen.

Honorarkatalog aus den 60er-Jahren

Für Patienten ist eine solche Prozedur oft unangenehm, für die Ärzte aber eine Notwendigkeit, um Zeit effektiv zu nutzen und ein Maximum an Patienten durchzuschleusen. Denn der Honorierungskatalog der Gebietskrankenkasse, der aus den 60er-Jahren stammt, ist im Wesentlichen so ausgerichtet, dass sich eine Ordination vor allem dann rechnet, wenn so viele Patienten wie möglich so schnell wie möglich behandelt werden – und dabei möglichst viele technische Geräte zum Einsatz kommen. So bekommt etwa ein Kardiologe lediglich zwölf Euro, wenn er sich eine halbe Stunde lang mit einem Patienten unterhält. Führt er hingegen in 15 Minuten eine Ultraschalluntersuchung durch, verdient er etwa das Zehnfache. Wenig überraschend also, dass er die Gespräche kurz hält, obwohl er gern eine ausführliche mündliche Anamnese durchführen würde.

Ebenso wenig überraschend ist, dass Patienten, die es sich leisten können, lieber Wahlarztordinationen aufsuchen. In Wien gibt es deshalb mittlerweile mehr Wahl- als Kassenärzte. Mindestens 20 Prozent der Bevölkerung werden von einem Wahlarzt versorgt. Tendenz steigend. Und das, obwohl man die Behandlungskosten selbst bezahlen muss und von seiner Versicherung maximal 80 Prozent jenes Betrages refundiert bekommt, den ein Vertragspartner für die gleiche Behandlung bekommen würde. Im Durchschnitt läuft ein Ordinationsbesuch auf 100 bis 300 Euro Selbstbehalt hinaus. Das nehmen viele Patienten aber mittlerweile in Kauf, wenn sich dafür der Arzt so lange Zeit nimmt, bis alle Fragen beantwortet sind. Und sie nicht sechs Monate oder länger auf einen Termin warten müssen.

Lukrative Haupteinnahmequelle

Weil immer mehr Leute, die vom Kassen- und Ambulanzsystem enttäuscht sind, so denken, werden Wahlarztordinationen seit einigen Jahren nicht mehr nur als Nebenerwerb für hochrangige Klinikärzte oder als Übergangslösung betrachtet, bis eine Kassenstelle frei wird, sondern dienen als lukrative Haupteinnahmequelle. Das geht so weit, dass Mediziner angebotene Kassenverträge ablehnen und Wahlärzte bleiben, weil sie neben dem guten Verdienst die persönliche Beziehung zu ihren zufriedenen Patienten schätzen und bei den Therapien und Untersuchungen nicht darauf achten müssen, ob diese von der Kasse übernommen werden.

„Wahlärzte können sich so ausreichend Zeit für ihre Patienten nehmen und dadurch Befunde, Diagnosen und Therapien ausführlich und auf Augenhöhe erklären“, sagt Markus Figl. Der Facharzt für Unfallchirurgie und Sportarzt mit Spezialisierung auf Knieverletzungen betreibt zwei Wahlarztordinationen in Wien und Tulln. Es komme sogar vor, dass Patienten zunächst bei einem Kassenarzt oder in einer Spitalsambulanz waren, danach aber zur Sicherheit zu ihm kommen würden, um eine zweite Meinung einzuholen oder sich die Diagnose bzw. Therapie noch einmal erklären zu lassen. „Denn wenn sie ihren Arzt nicht genau verstehen, sind sie skeptisch bezüglich der geplanten Operation oder Therapie.“ Zudem würden die Wartezeiten wegfallen. „Sechs Wochen nach einer Knieverletzung sind meine Patienten operiert, unterziehen sich einer intensiven Physiotherapie und kehren in ihren Beruf zurück. Zu diesem Zeitpunkt warten Patienten im Kassensystem noch auf einen MRT-Termin beim Radiologen.“

Seiner Meinung nach wird sich die Flucht in Wahlarztordinationen in den kommenden Jahren wegen der geplanten Reduzierung der Leistungen in Spitalsambulanzen noch verschärfen. Eine Entwicklung, der man mit einer Reform des Honorierungskatalogs der Kassen entgegenwirken könnte, damit Patienten für eine angemessene Behandlung nicht doppelt zahlen müssen – einmal über die Sozialversicherungsbeiträge und noch einmal in der Wahlarztordination. Figl: „Die Leidtragenden sind vor allem die sozial schwächeren Patienten, die in diesem System massiv benachteiligt werden.“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2015)

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