Mehrere Stimmen für einen Wähler

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Wissenschaftler Richard Sturn hat mit „Projekt Parallelwahl“ ein alternatives Wahlrecht getestet, das den Wählerwillen besser abbildet und die Zufriedenheit steigert.

Wien. Es ist ein Effekt, den viele Österreicher kennen. Am Wahlsonntag pilgert man zum Wahllokal, wirft den Stimmzettel in die Urne – und sobald das Ergebnis über den Bildschirm flimmert, ist man unzufrieden. Spätestens, wenn Koalitionen gebildet werden und ein Regierungsprogramm vorliegt, steigert sich die Unzufriedenheit vieler Österreicher bis zur Empörung – nach dem Motto: „Das habe ich so sicher nicht gewählt.“

„Niemand richtig zufrieden“

Richard Sturn, Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz und Wahlrechtsexperte, hält fest: „Es ist paradox. Zum Schluss (nach einer Wahl, Anm.) kommt etwas heraus, womit niemand richtig zufrieden ist.“ Für ihn ist das Wahlsystem aber ein Schlüssel zur politischen Zufriedenheit des Volkes. Deshalb hat sich Sturn auf die Suche nach einem Wahlrecht gemacht, das den Wählerwillen besser abbildet („Projekt Parallelwahl“) – was den Bogen zur Wien-Wahl am 11. Oktober spannt. Denn Rot-Grün hat sich 2010 in einem Koalitionspakt verpflichtet, ein neues Wahlrecht für Wien einzuführen – nachdem das bisherige Wahlrecht große Parteien, also die Wiener SPÖ, überproportional bevorzugt. Konkret konnte die SPÖ (wenn gewisse Rahmenbedingungen eintreffen) mit etwa 44 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit an Mandaten erreichen. Ein neues, weniger mehrheitsförderndes Wahlrecht scheiterte allerdings an Querelen in der Rathauskoalition und der folgenden Blockade der SPÖ. Nur: Nach der Wien-Wahl 2015 wird die Bürgermeisterpartei eine Reform des Wahlrechts nicht mehr blockieren können – nachdem ihr deutliche Verluste vorausgesagt werden.
Damit bleibt noch die Frage: Wie soll ein Wahlrecht aussehen, das demokratisch ist und mit dem die Bürger zufrieden sind? Eine Lösung liefert Sturn mit seinem „Projekt Parallelwahl“: „Das Projekt läuft jetzt seit neun Monaten“, und im Zuge der heurigen Steiermark-Wahl (in der Form einer Nachwahlbefragung) wurde es bereits getestet.
Ausgangspunkt ist ein Grundproblem. Derzeit kann ein Wähler seine Stimme nur zu 100 Prozent einer Partei geben. „Auch, wenn er mit Teilen des Programms der Partei, die er gewählt hat, unzufrieden ist, und er auch eine zweite Partei sehr attraktiv findet“, so Sturn. Hier würde ein sogenanntes Stimmensplitting mehr Differenzierung bringen. Anders formuliert: Der Wähler kann bei diesem Wahlsystem mehrere Parteien wählen, diese reihen und damit seine Stimme gewichten.
Die erste, einfachere Variante: Der Wähler reiht die Parteien auf dem Stimmzettel. Daraus lässt sich dann die Präferenz des Wählers deutlich besser erkennen als bisher. Die Wähler können damit mehrere Parteien, die ihnen nahestehen, stärken. Und jene, die sie ablehnen, mit dem letzten Platz schwächen.
Die zweite Variante: Ebenfalls eine Reihung, die allerdings differenzierter ausfällt. Der Wähler hat 100 Punkte zur Verfügung und verteilt sie auf die Parteien. Dadurch ergibt sich ebenfalls eine Reihung, „aber mit reichhaltiger Information von unten nach oben“, wie Sturn erklärt. Anders formuliert: Der Wähler signalisiert den Parteien zusätzlich, welche Koalition er gerne hätte bzw. welche Partei er wie stark vertreten haben möchte.

Punktesystem hat sich bewährt

Wer dieses Modell für ungewöhnlich, exotisch oder nicht durchführbar hält, der irrt. Laut Sturn wird ein Punktesystem im Endeffekt bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg (Deutschland), in Kalifornien und auch in der Schweiz verwendet. Aber auch im Alltag sei das Punktesystem ständig präsent. Im Sport würden oft Punkte vergeben, um den Sieger und eine Reihung zu ermitteln. Auch im Alltag würden Menschen ihr Geld nicht für einen einzigen Zweck ausgeben, sondern aufteilen, also für Miete, Essen, Hobbys etc.
„Im Schnitt sind die Wähler (mit diesem System, Anm.) zufriedener, weil es eine größere Übereinstimmung zwischen den Wünschen der Wähler und dem Ergebnis gib“, meint Sturn über seine Erfahrungen. Allerdings hat dieses System auch einen Nachteil – vor allem das Punktesystem. „Es ist schwierig, allein in einer Wahlzelle, genau die 100 Punkte zu treffen“, meint der Forscher. Bei der Aufteilung der Punkte auf z. B. fünf Parteien müsste man immer im Kopf mitrechnen. Und damit würde die Zahl der ungültigen Stimmen massiv steigen – wegen Wahlzetteln mit mehr als 100 Punkten. Doch auch für dieses Problem hat der Wissenschaftler Sturn eine Lösung: Nämlich die Einführung einer computerunterstützten Stimmabgabe, bei der die Wähler automatisch aufmerksam gemacht werden, wenn sie mehr als 100 Punkte vergeben haben.

Auf einen Blick

Nach der Wahl sind viele Wähler mit dem Ergebnis unzufrieden. Vor allem nach der Bildung einer Koalition, wenn das Regierungsprogramm mit seinen Maßnahmen vorliegt. Eine Möglichkeit, die Demokratie zu stärken und die Wählerzufriedenheit zu steigern, ist ein neues Wahlsystem mit Reihungen und Punkten, wie es Richard Sturn (Karl-Franzens-Universität Graz) testet.

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