Lehrer auf Hausbesuch bei Schülern

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Dienst nach Vorschrift ist zu wenig und gefrühstückt wird gemeinsam mit den Eltern: Cordula Heckmann, Direktorin der einst schlimmsten Schule Deutschlands, liefert Ideen für Wien.

Die Presse: Ihre Schule galt als schlimmste Schule Deutschlands. Die Lehrer klagten in einem Brandbrief über Gewalt, Aggression und Ignoranz. Nun, neun Jahre später, ist die Rütli-Schule ein Vorzeigeprojekt. Kann jede Schule diesen Wandel schaffen?

Cordula Heckmann: Ich glaube schon daran. Schule ist eine lernende Institution und von daher in der Lage, Weichen zu stellen.

Auch ohne Förderungen im zweistelligen Millionenbereich, wie sie Ihrer Schule in Aussicht gestellt werden?

Wir werden das Geld für Investitionen in neue Gebäude bekommen. Eine bedeutsame und wertschätzende Geste. Entscheidend war aber der pädagogische Prozess – dieser hat weniger mit Geld zu tun.

Was ist davor schiefgelaufen?

Es war ein strukturelles Problem. Es hat Hauptschulen gegeben, die aufgrund ihrer Lage von besonders vielen Kindern aus sozial benachteiligten Familien, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, besucht wurden. Wenn Sie eine solche Schulform laufen lassen, die Kindern und Eltern vermittelt, jetzt gehörst du zu den Verlierern, du hast keine Chance, aus der Nummer herauszukommen, dann ist das schwer erträglich. Und für Pädagogen extrem schwierig, Motivation zu wecken.

Wie hat Berlin darauf reagiert?

Der Brandbrief hat zu einer großen Strukturreform in der Stadt beigetragen. Das Gymnasium, das einen guten Ruf hat, ist bestehen geblieben. Die Hauptschule wurde abgeschafft, die Integrierte Sekundarschule geschaffen und besser ausgestattet – zumal sie eine große Integrationsleistung vollbringt. In den Klassen sitzen weniger Kinder, und jede Schule hat einen Sozialarbeiter bekommen. Zudem führt die Schule nicht in zwölf, sondern in 13 Jahren zum Abitur. Das bringt viele Eltern dazu, sehr gute Schüler in der Integrierten Sekundarschule anzumelden.

Und was haben Sie an Ihrer Schule verändert?

Vieles. Hauptschule, Realschule und Grundschule wurden zu einer Gemeinschaftsschule zusammengefasst – die Kinder werden erst nach der zehnten Klasse getrennt. Wir bieten alle Bildungsabschlüsse an – bis zum Abitur. Schulstufe eins bis drei beziehungsweise vier bis sechs wird jahrgangsübergreifend unterrichtet. Erst danach gibt es jahrgangshomogene Gruppen. Außerdem wurden wir zur Ganztagsschule. Der Unterricht dauert von acht bis 16 Uhr. Dabei wechseln sich Lern- und Freizeit ab.

Wollten Sie das Lernen am Nachmittag bewusst nicht den Elternhäusern überlassen?

Ja. Wir haben dadurch viel mehr pädagogische Möglichkeiten und viel mehr Einfluss auf das Freizeitverhalten der Kinder. Bildungsbürger wissen, dass Freizeit auch Bildungszeit ist. Deshalb schicken sie ihre Kinder zum Klavierunterricht und zum Sport. Das können wir nun für alle anbieten.

Wann stoßen Lehrer in schwierigen Schulen an ihre Grenzen?

Wenn Eltern kriegstraumatisiert sind, dann hat das Auswirkung auf die Erziehung ihrer Kinder. Wir haben Schüler mit psychologischen Problemen und auch welche, die eine enorme Schuldistanz haben. Wenn jemand nicht in der Schule erscheint, dann stoßen wir schon irgendwann an unsere Grenzen. In diesen Fällen arbeiten wir mit den Behörden zusammen, dem Jugendamt, der Schulpsychologie et cetera, und wir machen auch Hausbesuche mit den Sozialarbeitern.

Ihre Lehrer besuchen die Schüler also auch zu Hause?

Ja. Oft schon, bevor die Kinder überhaupt in ihre Klasse kommen. Die Lehrer bekommen eine Liste mit ihren künftigen Schülern und fangen bereits in den Ferien an, die Kinder und Eltern zu besuchen.

Das verlangt engagierte Lehrer.

Richtig. Ich kann niemanden dazu verpflichten, das zu machen, aber meine Pädagogen haben gelernt, dass es eine Investition in die Zukunft ist und dass es ihre Arbeit auf lange Sicht gesehen erleichtert.

Braucht es einen bestimmten Typus von Lehrer dafür?

Ich hätte ursprünglich gesagt, dass es dafür keinen besonderen Lehrer braucht. Aber wir wissen, dass es schon auch Lehrer gibt, die sich als reine Fachvermittler verstehen: Für Lehrer, die sagen: „Ich bin exzellenter Mathematiker, aber ich will kein Kind ins Leben begleiten“, ist das nicht die richtige Schule. Es braucht eine gute Haltung zum Kind und das Wissen, dass es kein Dienst nach Vorschrift ist.

In Österreich wird die Ausweitung der Schulautonomie diskutiert. Wie viel Freiheit haben Sie bei der Auswahl von Lehrern?

Ich habe definitiv viel Freiheit. Berlin verteilt Lehrer nicht mehr an Schulen. Aber Sie können nur unter Kollegen auswählen, die sich bereit erklären, in einer Brennpunktschule in Neukölln zu unterrichten. Das waren anfangs nicht viele.

Wie wichtig ist Elternarbeit?

Essenziell. Man muss davon ausgehen, dass Eltern aus arabischen Ländern und der Türkei grundsätzlich ein anderes Schulverständnis haben als wir. Es geht also weniger um sprachliche Barrieren als um die Übersetzung von Systemen. Man muss den Eltern erklären, wie ihr Kind im neuen System erfolgreich sein kann. Ich darf mein Kind als Elternteil hier nicht einfach abgeben und gut ist. Nein, die Berliner Schule denkt die Eltern als Erziehungspartner mit, und darüber muss ich informieren: „Sie sagen mir, Sie wollen, dass Ihr Kind Erfolg hat, und ich sage Ihnen, was Sie von Ihrer Seite tun können, damit es gelingt.“

Und das funktioniert?

Ich habe höchstselten mit Eltern zu tun, die sagen: „Ehrlich, Frau Heckmann, das ist mir völlig egal.“ Wichtig ist, dass man die Eltern zu persönlichen Einzelgesprächen einlädt. Denn in dem Moment, in dem ich mich vor eine ganze Gruppe von Eltern stelle und mit ihnen in einer doch eher abstrakten Sprache spreche, habe ich keinen Zulauf. Manchmal allerdings muss man auch nachdrücklicher werden.

Sie laden die Eltern ja auch zum Frühstücken ein.

Ja. Zweimal pro Woche. Ich lasse mich dort gerne sehen. Denn normalerweise scheuen Eltern die Schulleitung ja.

AUF EINEN BLICK

Cordula Heckmann ist seit 2009 Direktorin der bekannten Berliner Rütli-Schule. Sie übernahm die Schule in Berlin-Neukölln, drei Jahre nachdem die Lehrer der damaligen Hauptschule einen Brandbrief veröffentlichten: „Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Fluren gerissen. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffs und menschenverachtendes Auftreten, Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen. Einige Kollegen gehen nur mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können“, stand im Brief geschrieben. Stadt und Schule haben darauf reagiert. Mittlerweile ist der Campus Rütli ein Vorzeigeprojekt. Die ersten Schüler haben bereits Abitur abgelegt. [ Uli Frech ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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