Schuld ist immer nur Israel

Ausgelöst haben die neue Gaza-Eskalation palästinensische Extremisten mit Raketenangriffen. Doch von Israel wird offenbar erwartet, dass es sich bombardieren lässt.

Der tunesische Außenminister Rafik Abdessalem zeigte sich am Samstag bei seinem Solidaritätsbesuch im palästinensischen Gazastreifen mindestens ebenso kämpferisch wie einseitig. Israel stehe nicht über dem Völkerrecht. Die Luftangriffe seien völlig inakzeptabel, sagte der Diplomat, als er das zerbombte Hamas-Regierungsgebäude besichtigte. Unerwähnt ließ er, warum es zum neuerlichen Gewaltausbruch gekommen war. Er vergaß wie so viele andere Entrüstete auch, den ursprünglichen Aggressor beim Namen zu nennen. In klassischer Täter-Opfer-Umkehr lud Herr Abdessalem die Schuld bei Israel ab.

Das asymmetrische Phänomen ist mittlerweile bekannt. Sobald Israel auf Attacken reagiert, wird es nicht nur sofort auf eine Stufe mit dem Aggressor gestellt, sondern im Handumdrehen zum allein verantwortlichen Übeltäter gestempelt. Auch diesmal: Die jetzige Krise begann, relativ unbeachtet, vor einer Woche. Militante Palästinenser feuerten vom Gazastreifen aus eine Panzerabwehrrakete auf ein israelisches Patrouillenfahrzeug jenseits der Grenze ab; zwei Soldaten wurden schwer verletzt. Israels Armee erwiderte das Feuer, daraufhin regnete es innerhalb von 48 Stunden mehr als hundert Raketen auf Südisrael. Schon in den Wochen davor hatten die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen deutlich zugenommen.

Die Provokateure mussten wissen, was sie auslösten. Nicht nur, weil in Israel Wahlkampf ist. Auch das ist ein Faktor, doch dessen Bedeutung wird übertrieben. Israels Premier Netanjahu braucht keinen Krieg, um zu gewinnen. Er liegt in Umfragen deutlich voran. Keine Regierung der Welt kann achselzuckend hinnehmen, dass ihre Bürger bombardiert werden. Auch der Staat Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung, die jedoch angemessen bleiben muss. Der Abschreckungseffekt, den der letzte blutige Gaza-Krieg (1400 palästinensische Tote!) nach dem Jahreswechsel 2009 hatte, ist verpufft. Mehr als drei Jahre lang war die islamistische Hamas, die den Gazastreifen regiert, willens und in der Lage, Raketenangriffe auf Israel einzudämmen. Zuletzt war dies aus Gründen, die vermutlich mit innerpalästinensischen Machtkämpfen zu tun haben, nicht der Fall. Deshalb hatte in der traurigen Logik dieses Konflikts Israel nun keine andere Wahl, als zurückzuschlagen. Mit der gezielten Tötung des Hamas-Militärchefs Ahmed al-Jaabari nahm es jedoch zunächst bewusst eine Eskalation in Kauf.

Konflikt ohne Lösung. Die zentrale Frage, eine Überlebensfrage für viele, ist nun, ob und wann die Gewaltspirale gestoppt werden kann. Eine gute Gelegenheit wurde bereits verpasst. Beim Gaza-Besuch des ägyptischen Premiers Kandil keimte am Freitag kurz die Hoffnung auf eine Waffenruhe auf, doch die palästinensischen Extremisten schossen weiter und packten Iran-Importware aus: Raketen mit 75 Kilometer Reichweite, bis Tel Aviv und Jerusalem. Mittlerweile hat Israel Reservisten einberufen. Am Samstag stand eine Bodenoffensive bevor. Laut „New York Times“ warnte US-Präsident Obama den israelischen Premier davor und bat den ägyptischen Präsidenten Mursi, einen Moslembruder, mäßigend auf dessen Genossen bei der Hamas einzuwirken.

Durch den Arabischen Frühling hat sich der diplomatische Druck auf den jüdischen Staat erhöht, zumindest in der Lautstärke. Ein Krieg, das ist schon jetzt klar, wird zum PR-Desaster für Israel und das Land weiter isolieren. Die Regierung in Jerusalem könnte sich trotzdem zu einem Einmarsch entschließen: Wenn sie nämlich zum Schluss kommt, dass sie anders keine Abschreckungswirkung erzielen und ihre Bürger nicht vor Raketenangriffen schützen kann. Für eine gewisse Zeit zumindest. Denn jeder weiß, und darin liegt die Tragik: Dauerhaft lässt sich das Problem nicht militärisch lösen. Politisch jedoch auch nicht mit einem Gegenüber wie der Hamas, für die (Raketen-)Terror ein probates Mittel darstellt und die Zerstörung Israels erklärtes Ziel bleibt. Den Preis werden am Ende wieder Zivilsten zahlen.



christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2012)

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