5. September 2015: Das Überschreiten der Grenze

Flüchtlinge
Flüchtlinge(c) REUTERS (Srdjan Zivulovic)
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"Komplettes Systemversagen" und gedankenlose Verletzung des Rechtsstaats: Eine kritische Analyse der Grenzöffnung 2015 durch prominente Juristen.

Was im September 2015 geschah, war für viele verunsichernd und verstörend: Die Staatsgrenzen Österreichs und Deutschlands standen offen und wurden Woche für Woche von zehntausenden Flüchtlingen unkontrolliert passiert. Der Rechtsstaat verzichtete auf die Durchsetzung geltenden Rechts, die Staatsgewalt machte den Eindruck der Ratlosigkeit, die Regierungsspitzen in Berlin und Wien traf Entscheidungen, ohne vorher die demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu konsultieren und ohne sich mit den Partnerstaaten in der EU abzustimmen. Die Bevölkerung war Zeuge dieses Vorganges und zweigeteilt. Der Umgang mit nationalen Grenzen führte zu einer moralisch aufgeladenen Debatte.

„Alle Menschen werden Brüder“

Für die einen schien sich mehr als 200 Jahre nach Schillers und Beethovens pathetischer Prophezeiung („Alle Menschen werden Brüder“) die Hoffnung des menschenrechtlichen Universalismus zu erfüllen: Solidarität mit allen und Inklusion statt Exklusion stand für die Träger der Willkommenskultur, zu denen auch viele Medien gehörten, auf der Tagesordnung. Warum sollten nur Österreicher, nur Deutsche Recht auf das von ihnen bewohnte Territorium haben und nicht auch Hilfesuchende? Das „Rendezvous mit der Globalisierung“ (Wolfgang Schäuble) – ohnehin überfällig. Vorbei die Zeiten, wo zwischen Einheimischen, Inländern und Fremden, Ausländern unterschieden werden musste. Nähe und Ferne – in der zum „Globale Village“ mutierten Welt überholte Differenzierungen. Hat nicht die moderne Gesellschaft eine Sehnsucht danach, so Angela Merkel, dass sie vielfältiger werde?

(c) REUTERS (Leonhard Foeger)

Für die anderen ist Schillers Appell zu brüderlicher Liebe zwar verehrenswerte Poesie, aber im politischen Alltagsgebrauch utopisch und illusionär. Sie sahen die Flüchtlingswelle als Vorgeschmack bevorstehender künftiger Wanderungsbewegungen und als unheimliches Omen, sie befürchteten den Verlust der nationalen Identität. Sie wirkten zutiefst verunsichert, sahen den Rechtsstaat als Opfer des menschenrechtlichen Moralismus erodieren und einen Kontrollverlust des Staates über die Bevölkerung. Politisch tendieren sie – wenn sie nicht schon vorher in diesem Lager waren – nun mehr als zuvor zu rechten bzw. populistischen Parteien. Politische Verwerfungen durch Radikalisierung sind nicht mehr auszuschließen.

Provokante Thesen

Sehr früh haben sich prominente Staatsrechtslehrer zu juristischen Grundfragen im Gefolge der Flüchtlingswelle zu Wort gemeldet. 16 von ihnen diskutierten bei einer Tagung des (eher konservativen) Schönburger Gesprächskreises in Bonn im Dezember 2015, in für den Wissenschaftsbetrieb außergewöhnlicher Schnelligkeit wurden die Beiträge auch in Buchform veröffentlicht: „Der Staat in der Flüchtlingskrise“, herausgegeben vom Kölner Staatsrechtslehrer Otto Depenheuer und dem Wiener Universitätsprofessor Christoph Grabenwarter, erschien schon vor Monaten im Schöningh Verlag und wurde bis jetzt kontroversiell diskutiert.

Es kommt nicht oft vor, dass sich Juristen im akademischen Diskurs so sehr kommentierend und kritisierend auch politisch äußern, der Untertitel weist bereits darauf hin: „Zwischen gutem Willen und geltendem Recht.“ Der Vorwurf, Öl ins Feuer einer lodernden Debatte zu gießen, blieb daher nicht aus. Für den Leser, dem hier einige der Thesen vorgestellt werden, macht das die Lektüre des Buches umso spannender.

Kritik an der Willkommenskultur

Die in Staaten gegliederte, partikulare Welt mit ihren Grenzen ist eine zivilisatorische Errungenschaft, so Herausgeber Depenheuer. Es sind daher auch immer diese freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaaten, hinter deren fixen Grenzen Flüchtlinge Schutz vor Verfolgung suchen. Nur diese Staaten sind fähig, die Menschenrechte zu sichern. Werden sie rechtlich oder administrativ überfordert, können sie diese Fähigkeit auch verlieren.

Pflege der Willkommenskultur ist für Depenheuer daher „Gesinnungsethik ohne Rücksicht auf die praktischen Folgen“ und kann die gesellschaftlichen Bindekräfte überstrapazieren. Sein hartes Urteil über die Willkommenskultur: Geltendes Recht durchzusetzen und dadurch „hässliche Bilder“ zu riskieren, ist einer saturierten und entpolitisierten Gesellschaft unangenehm, so werden harte Entscheidungen durch „werteorientierte“ Rhetorik vermieden: „ein uneingestandener Nihilismus, der sich als Moral geriert?“ Frank Schorkopf, Professor in Göttingen, sieht Irrationalität mitwirken, „das Romantische“, Sehnsucht nach Erlösung von historischer Schuld und auch schlechtes Gewissen wegen des Wohlstandsgefälles.

Aus einer zerfallenden Gesellschaft soll eine gefühlsstarke Gemeinschaft werden, man verlangt dies im Falle Deutschlands auch von den anderen europäischen Staaten: Ein „überraschend autoritärer Zug“, die anderen sollen „die deutsche Sondermoral übernehmen.“ Hofiert man dann Autokraten wie den türkischen Präsidenten Erdogan, über dessen Menschenrechtsverletzungen dezent hinweggesehen wird und der Flüchtlinge daran hindern soll, nach Europa zu kommen, erscheint dies „moralisch gänzlich unerträglich.“ (Depenheuer).

Nicht die Identität preisgeben

Auf viel Kritik stieß das Identitätskonzept des Freiburger Professors Dietrich Murswiek über die „nationale Selbstorganisation der Völker auf der Basis sprachlicher, kultureller und historischer Gemeinsamkeiten.“ Nach dem Grundgesetz gehe in Deutschland die Staatsgewalt vom deutschen Volk aus, strebe die Regierung eine Überwindung des Nationalstaats durch eine multikulturelle Gesellschaft oder einen Vielvölkerstaat an, so handle sie gegen das Grundgesetz: „Die Entstehung ethnisch-religiöser und sprachlicher Parallelgesellschaften darf weder geplant noch in Kauf genommen werden. Sofern Parallelgesellschaften sich als unbeabsichtigte Nebenfolge einer nicht hinreichend durchdachten Migrationspolitik entwickeln, muss die Politik – etwa durch Integrationsmaßnahmen - auf ihre Rückbildung hinwirken.“

Auch andere Autoren vertreten die Ansicht, dass die Grundentscheidungen über Massenzuwanderung angesichts der langfristigen Auswirkungen nicht einfach von der Regierung auf dem Verwaltungsweg getroffen werden sollten.

Der direkte Vorwurf Murswieks an Angela Merkel: „Indem die Bundeskanzlerin eine Entscheidung trifft, die sich auf die Identität und auf den Charakter des Staates als des Nationalstaat dieses Volkes gravierend auswirkt, ohne das Volk zu fragen, macht sie sich selbst zum Souverän. Das ist mit dem Prinzip der Volkssouveränität nicht vereinbar.“ (Dass Merkel hier rasch auf einen Notstand reagieren musste, wird nicht berücksichtigt.) Der schlimmste Fall sei eine im Gastland kulturell nicht verwurzelte Mehrheitsbevölkerung, ein Extremfall, der aber immer wahrscheinlicher werde. Daher plädiert Murswiek für Obergrenzen, Einwanderer ohne positive Integrationsprognose müssten wieder rückgeführt werden.

(c) REUTERS (Heinz-Peter Bader)

Wenn die deutsche Regierung alles für die Integration syrischer Flüchtlinge tue, würde sie diese fälschlicherweise als Einwanderer behandeln und nicht als Flüchtlinge. Murswiek verweist auf das Beispiel Frankreich, wo nach Jahrzehnten muslimischer Einwanderung aus Nordafrika wenig Integrationserfolge zu verzeichnen seien. Sein Fazit: „Die deutsche Regierung ist nicht berechtigt, die Identität des Volkes, das sie repräsentiert und dessen Wohl zu wahren sie geschworen hat, einwanderungspolitisch aufzulösen. Rechtlich steht das dem Grundgesetz entgegen.“

Ein Haus mit Drehtür

Der einzige österreichische Vertreter in dem illustren Juristenkreis, der Wiener Universitätsprofessor Christoph Grabenwarter, weist auf das starke Gefälle im sozialstaatlichen und rechtsstaatlichen Niveau nicht nur zwischen Europa und den Herkunftsländern der Flüchtlinge hin, sondern auch auf das Gefälle innerhalb der europäischen Staaten selbst. Asylrechtsabkommen wie Dublin II und Dublin III, ursprünglich sinnvoll konzipiert, scheitern dadurch an massiven Unzulänglichkeiten in der Menschenrechtssituation im Süden und Osten Europas. Im Süden seien die Ressourcen für menschenrechtskonforme Behandlung einer großen Zahl von Flüchtlingen allein schon infolge der wirtschaftlichen Bedingungen oft nicht gegeben, in den osteuropäischen Ländern fehle es an Aufnahmebereitschaft. Die für Flüchtlinge attraktiven Staaten wie Österreich und Deutschland geraten so in die Situation einer schwer zu meisternden Überforderung und hätten Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung, allein schon die bürokratische Bewältigung des Massenzustroms führe zu Problemen. Das europäische Unionsrecht sei dabei nicht sehr hilfreich, es halte noch keine unmittelbar greifbaren Antworten bereit.

Auch Christian Hillgruber aus Bonn fordert Differenzierung ein, Bürgerkriegsflüchtlinge seien keine Arbeitsemigranten und keine Asylbewerber, sie müssten, sobald sich die Situation in ihrem Heimatland verbessert, wieder zurückkehren, nur so könnte ja in aufnahmebereiten Ländern wieder Platz für neue Schutzsuchende geschaffen werden. Hillgrubers einprägsames Bild: "Das Haus Deutschland sollte nicht hermetisch abgeriegelt sein, sondern Eingangstüren haben. Aber die eine Eingangstür hat letztlich Drehtürcharakter; durch sie können Flüchtlinge eintreten und sich im Falle festgestellter Schutzbedürftigkeit vorübergehend in Deutschland aufhalten, um nach Wegfall dieses Aufenthaltsgrundes Deutschland durch dieselbe Tür wieder in Richtung Heimat zu verlassen. Durch die andere Eingangstür erhalten Arbeitsmigranten Zutritt, sofern sie den diesbezüglichen Vorstellungen und Erwartungen Deutschlands entsprechen. (...) Diese Tür hat allerdings keinen Türgriff, mit dem man die Tür von außen öffnen und nach eigenem Gutdünken das Haus betreten könnte. (...) Dafür hat diese Tür einen Briefschlitz, in den die Bewerbungsunterlangen eingeworfen werden können."

Aus den Thesen des vorliegenden Buches wird deutlich: Es handelt sich nicht durchgehend um wertungsfreie akademische Analysen, sondern auch um ein Debattenbuch. Die meisten der Beiträge lassen kein gutes Haar an der Flüchtlingspolitik der Grenzöffnung im September 2015, sie konstatieren Rechtsbrüche an der Staatsspitze und rechtsstaatliche Dekadenz sowie ein Versagen der europäischen Institutionen. Gemeinsam ist den Autoren die Forderung nach Schutz der Flüchtlinge im Rahmen des Möglichen und für die Dauer der Notsituation sowie eine klar geregelte Trennung zwischen Wirtschaftsmigranten und Verfolgten. Das Vorhaben, die verfassungsrechtliche Problematik rund um die Öffnung der Grenzen und den Zustrom von Flüchtlingen darzulegen, wird jedenfalls für den Interessierten auf erhellende Weise eingelöst. Mit dem nötigen Abstand erkennt man, was im Herbst 2015 eigentlich an den Grenzen passiert ist und wie man sich auf die bevorstehenden Migrationsschübe vorbereiten sollte.

Buchhinweis

Otto Depenheuer, Christoph Grabenwarter (Hg.): Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016
270 Seiten, 26,90 Euro

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