Der Tag, an dem aus dem Kriegsgerede bitterer Ernst wurde

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"Presse"-Korrespondent Erich Rathfelder erlebte den ersten Tag des Bosnien-Krieges hautnah mit. Er erinnert sich an seinen ersten Aufenthalt im Luftschutzkeller und die TV-Bilder von den ersten Toten in Sarajewo.

Sarajewo. Am Morgen des 5. April drangen schon beunruhigende Nachrichten aus Bosnien in die dalmatinische Hafenstadt Split, wo ich gerade Quartier bezogen hatte. Der Krieg lag schon in der Luft. Am 6. April wollten die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Unabhängigkeit Bosnien und Herzegowinas diplomatisch anerkennen, was die bosnisch-serbische Führung unter Radovan Karadžić nicht hinnehmen wollte.

Der Inspirator der satirischen Zeitschrift „Feral Tribune“, der nie um lustige Sprüche verlegene Predrag Lukčić, war zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, ernst und aufgeregt: „Komm, wir fahren zum Kuprespass, da soll es zu Kämpfen kommen. Und dann weiter nach Sarajewo.“ Doch Predrag wurde wegen redaktioneller Pflichten aufgehalten. Die Nachrichten überschlugen sich. Serbische Truppen seien bereit, im ganzen Land anzugreifen, erklärte der deutsche Konsul in Split. Es wurde Ernst.

So fuhr ich allein in das 100 km entfernte, in der West-Herzegowina liegende Städtchen Duvno oder Tomislavgrad, wie es die Kroaten jetzt nannten. Die Straße über den nahegelegenen Kuprespass war von ausschlaggebender strategischer Bedeutung. Denn diese Straße führte nach Zentralbosnien und in die von muslimisch-kroatischen Milizen dominierten Gebiete.

In der Stadt defilierten bewaffnete Frauen, ebenfalls schwer bewaffnete männliche Einheiten wurden in Richtung Kupres gebracht. Ich fuhr mit meinem Auto hinterher, musste jedoch an der Straßensperre in einem Dorf 15 km vor dem Pass stoppen. „Kampfflugzeuge sind von Bihać aus auf den Weg nach Tomislavgrad, kommen Sie mit den Schutzraum“, forderte mich ein Polizist auf. In einem Keller drängten sich die kroatischen Soldaten. Aber Bombenabwürfe gab es hier nicht.

Die erste Tote war eine Studentin

Doch dann begann die Artillerie von Kupres zu schießen. Die bosnisch-kroatischen Soldaten waren zu spät gekommen. Die Passstraße war in der Hand der bosnisch-serbischen Armee. Strategisch ungünstig mussten sich die bosnischen Kroaten unterhalb der Hochebene eingraben. Erst im Herbst 1994 sollten Kupres und der Pass zurückerobert werden. Nach Tomislavgrad zurückgekehrt sah man Baumstämme an die Fassade des Hotels gelehnt. Sie sollten das Gebäude vor Granaten schützen. Im Fernsehen lief die Übertragung aus Sarajewo. Zehntausende hatten sich vor den Regierungsgebäuden gegenüber dem Hotel Holiday Inn versammelt und forderten, den Frieden zu bewahren. Es war die größte Friedensdemonstration der multiethnischen städtischen Bevölkerung Sarajewos. Plötzlich gellten Schüsse vom Dach des Hotels. Die Kamera schwenkte auf fliehende Menschen. Suada Deliberović, eine Studentin aus Dubrovnik, war als Erste tödlich getroffen, weitere fünf Menschen starben. Die ersten Toten des Krieges in Sarajewo, die ersten von 11.500, die nach der dreieinhalbjährigen Belagerung der Stadt gezählt worden sind.

Duell der Scharfschützen

Dann kam es zu einer Schießerei auf dem Dach des Hotels. Später erfuhr ich erst, dass der bosnische Serbe und Scharfschütze Dragan (Name geändert) mit anderen bewaffneten Zivilisten die Schützen vom Dach geholt hatte. Er gehörte zu jenen bosnischen Serben und Kroaten, die ihre Stadt gemeinsam mit den Muslimen verteidigen wollten. Er wurde später ein legendärer Antisniper Sniper – ein Scharfschütze, der die Scharfschützen der Gegenseite aufs Korn nahm. Heute lebt er in Übersee.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2012)

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