Ein Sinneswandel des Chefrichters John Roberts sicherte den Bestand der US-Gesundheitsreform. Tatsächlich berichtete nun der TV-Sender CBS von einem Gerichtssaalkrimi hinter den Kulissen.
Washington. vierWashington. In den Tagen vor dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli macht die Politik in den USA traditionell Pause. Barack Obama spannt am Präsidentensitz Camp David aus, Mitt Romney schart die Großfamilie im Feriendomizil in New Hampshire um sich. Und John Roberts, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, flüchtete vor der brütenden Sommerhitze in Washington und der Polemik um das Urteil über die Gesundheitsreform auf eine Inselfestung, wie er scherzhaft sagte. Er hält auf Malta ein Rechtssymposion ab.
Die Wogen über Roberts' Entscheidung haben sich in der Heimat indessen nicht gelegt. Seine Stimme hatte den Ausschlag gegeben für den Bestand der unpopulären Reform. Republikanische Abgeordnete punzierten den Chefrichter als „Verräter“, Moderator und Tea-Party-Galionsfigur Glenn Beck ließ T-Shirts mit der Aufschrift „Feigling“ drucken. Präsident George W. Bush hat John Roberts vor sieben Jahren zum Vorsitzenden des Höchstgerichts nominiert, er zählt gemeinhin zu den vier Stimmen des konservativen Blocks in dem neunköpfigen Gremium.
Gerichtssaalkrimi
Nach der Urteilsverkündung spekulierten juristische Feinspitze prompt über einen Sinneswandel des Chefrichters. Tatsächlich berichtete nun der TV-Sender CBS von einem Gerichtssaalkrimi hinter den Kulissen. Demnach hatte Roberts nach dem öffentlichen Hearing im März mit vier Kollegen zunächst für eine Aufhebung der Reform votiert, seine Meinung aber später revidiert.
Seinem Selbstverständnis nach betrachtet sich Roberts als Schiedsrichter, eine Ablehnung des Gesetzes hätte die Vorwürfe der Parteilichkeit gegenüber dem Höchstgericht noch weiter bestärkt. Die Aufhebung des Wahlspendenlimits hat dem Supreme Court bereits scharfe Kritik des Präsidenten eingetragen. Während einer Rede Obamas zur Lage der Nation hat einer der Richter auch augenfällig sein Missfallen bekundet. Ein anderer attackierte ihn wegen seiner Immigrationspolitik.
Um seine Kehrtwende zu rechtfertigen, wandte John Roberts eine juristische Finte an. Er verwarf zwar das Argument der Regierung, wonach der Kongress den Handel reglementieren und daher eine Versicherungspflicht vorschreiben könne. Dies beflügelte Gegner eines starken Staates wie die Tea Party. Stattdessen berief er sich auf die Steuerhoheit des Staats. Ursprünglich galt der gemäßigt-konservative Anthony Kennedy als Zünglein an der Waage. Kennedy bedrängte Roberts dann vergeblich, seine Position erneut umzustoßen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2012)