Nordirland: Die gefährliche Saat der IRA

(c) AP (Peter Morrison)
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Splittergruppen der IRA formieren sich 15 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges neu. Sie füllen ihre Arsenale und kündigen neue Terroranschläge an. Die Wirtschaftskrise treibt ihnen neue Mitglieder zu.

Gepanzerte Polizeifahrzeuge patrouillieren auf den Straßen, darin hocken Beamte in kugelsicheren Westen; riesige, mit Stacheldraht gekrönte Mauern trennen katholische Viertel von protestantischen - das ist Belfast heute, fast 15 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges. Nach wie vor prangen in Nordirlands Hauptstadt Belfast die berühmten Wandbilder, Symbole für den gewalttätigen Konflikt zwischen Republikanern und Unionisten. Auch heuer wieder marschierten Protestanten durch katholische Viertel und provozierten mit sektiererischen Liedern. Bei Ausschreitungen zwischen Unionisten und Republikanern wurden am Sonntag und Montagabend etwa 50 Polizisten verletzt. Manche meinen, der derzeitige Frieden sei bloß die Abwesenheit von Krieg, nicht mehr.

Denn für Mitglieder der IRA-Splittergruppen ist der Kampf nicht zu Ende. Obwohl die alte Provisional IRA seit Anfang des Jahrtausends und nach der Bildung der nordischen Exekutive als „aufgelöst" gilt, verfolgen die neuen Paramilitärs das alte Ziel: Ein neues, vereintes Irland und den Abzug der britischen Truppen aus dem „besetzten" Nordirland. 2009 waren ihre Anschläge deutlich angestiegen, 2011 ging die Gewalt im Vergleich zum Vorjahr aber wieder um ein Viertel zurück. „Die Ruhe trügt", sagt Pádraig O'Murchu (Name geändert), „die IRA wird erst aufhören, wenn die Briten das Land verlassen haben". O'Murchu war als mutmaßliches Mitglied der Continuity IRA (CIRA) sechs Jahre lang inhaftiert, in seinem Haus war selbstgemachter Sprengstoff gefunden worden. Heute ist er Ende zwanzig und lebt in einem Gebiet, in dem Splittergruppen der IRA besonders stark sind. O'Murchu: „Die Gruppen befinden sich in einer Phase der Re-organisierung, sie sind dabei, Mitglieder zu rekrutieren und Waffen zu beschaffen."

Mehr Anschläge auf britische Ziele

Nordirland ist gespalten wie kaum eine andere Region in Europa: Mehr als 90 Prozent der Menschen leben in konfessionell getrennten Wohngegenden. Ihre Kinder treffen sich kaum, denn sie gehen in staatliche oder katholische Schulen. Über vierzig sogenannte „Peacewalls" erstrecken sich zwischen den Vierteln - ihre Zahl hat sich seit Mitte der 1990er verdoppelt.

Zwar hatten die erklärte Auflösung der IRA und das Karfreitagsabkommen 1998 den Weg freigemacht für eine autonome nordirische Regierung. Die Extremistenparteien von einst, die republikanische Sinn Féin und die pro-britische Democratic Unionist Party (DUP), bilden seit 2007 die Provinzregierung im nordirischen Unterhaus, doch der Ausgleich hat Feinde. Nach wie vor gefährden paramilitärische Gruppen beider Seiten ein friedliches Zusammenleben. In den Augen ihrer Unterstützer sind die bewaffneten Republikaner nach wie vor Freiheitskämpfer im Auftrag eines vereinten Irlands, für andere sind sie nicht mehr als kriminelle Gewalttäter. In den vergangenen Jahren sorgte vor allem die Wirtschaftskrise dafür, dass Splittergruppen der Irish Republican Army (IRA) an Zuwachs gewannen.

Ein großes Problem ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, in traditionell katholischen Gebieten wie Derry liegt sie bei etwa vierzig Prozent. Dort herrscht die RAAD (Republican Action Against Drugs) wie eine Mafia über ganze Viertel. Im Februar bekannte sie sich zur Ermordung eines jungen Mannes, dem vorgeworfen wurde, mit Drogen zu handeln. Die Häuser mutmaßlicher Dealer werden immer wieder Ziele von Bomben- und Brandanschlägen. Auch die berühmten punishment-shootings, Schüsse ins Knie und in andere Gelenke, finden nach wie vor statt. Ende Juli schlossen sich die RAAD, Teile der RIRA (Real IRA) und andere Splittergruppen zusammen und kündigten an, vermehrt britische Ziele wie Polizeistationen und Militärbasen in Nordirland anzugreifen.

Nach etlichen Abspaltungen gibt es heute etwa ein halbes Dutzend republikanischer Terrorgruppen, die sich alle auf die Tradition der IRA berufen.

Heute mehr Bewaffnete

Die protestantische DUP ist selbstverständlich gegen einen Anschluss an die Republik. Eines ihrer Hauptargumente ist die schlechte wirtschaftliche Lage Nordirlands. „Wir würden ohne Subventionen aus London nicht überleben", sagt DUP-Sprecher Clive McFarland. Er kommt ohne Umschweife auf die Probleme in den katholischen Arbeitervierteln zu sprechen und schätzt die Zahl gewaltbereiter Republikaner auf „ein paar hundert, auf jeden Fall mehr als noch vor fünf, sechs Jahren". Um Anschlägen entgegenzuwirken baue man auf öffentliche Überwachung und Bespitzelung potenzieller Mitglieder durch den britischen Inlandsgeheimdienst (MI5). Den Zusammenschluss von RAAD und RIRA bezeichnet McFarland als „Zweckehe", er zeige, dass „sie alleine keinen Erfolg haben können". Die DUP ist sich der Probleme bewusst, die durch die extreme Spaltung der Gesellschaft entstehen: Die nordirische Polizei (PSNI) besteht zu über 70 Prozent aus Protestanten, die drop-out-Rate ist unter katholischen Anwärtern besonders hoch. Laut McFarland ist das eine Folge der Drohungen, denen katholische Polizisten ausgesetzt sind. Gerade in republikanischen Vierteln, in denen bewaffnete Gruppen besondere Unterstützung genießen, ist die Polizei nicht gern gesehen. Hier übernehmen, wie auch in protestantischen Hardliner-Vierteln, paramilitärische Gruppen die Macht. Notrufe aus diesen Gebieten werden ignoriert oder die Einheiten lassen lange auf sich warten. Polizisten haben Angst, attackiert zu werden, in den vergangenen Jahren wurden immer wieder Beamte durch Sprengfallen getötet. McFarland sagt, die Polizei müsse sich besser vorbereiten auf Einsätze in diesen Vierteln, das brauche eben seine Zeit. Eine Strategie, wie das Problem gelöst werden kann, gebe es nicht.

Die mitregierende Sinn Féin möchte nichts hören von einer Erstarkung paramilitärischer Gruppen. „Die Dissidenten haben keine politische Agenda, sie sind völlig isoliert", sagt Pat Sheehan, Sinn-Féin-Politiker in Belfast und früheres Mitglied der IRA. „Mit der irischen Befreiungsarmee, wie sie einmal war, kann man diese Gruppen nicht vergleichen." Sheehan spricht von „weniger als 50 Männern", die „überhaupt keine Unterstützung durch die Bevölkerung genießen". Doch eine Studie der Universität von Liverpool zeigt, dass 14 Prozent der Wahlberechtigten aus katholischen Vierteln mit Gruppen wie der RIRA oder der CIRA sympathisieren. Dabei handelt es sich vor allem um Männer unter 35 Jahren aus nationalistischen Gebieten. „Das bedeutet aber nicht, dass sie die Gruppen aktiv unterstützen", sagt Anthony McIntyre, der bis 1998 slbst bei der IRA war. „Die Menschen gehen keine Risiken ein, sie wählen immer noch Sinn Féin." McIntyre hält nichts von Sinn Féins Behauptung, die IRA wäre heute inkompetent: „Gerade das macht sie ja so gefährlich. Wenn sie nicht so verdammt inkompetent wären, hätten sie die Bomben in Omagh (1998, 29 Tote, Amn.) nicht gelegt."

Die wahren Republikaner

Sheehan sagt, dass Katholiken auch heute noch diskriminiert werden. Sein 13jähriger Sohn werde später Probleme haben, eine Arbeit zu finden, weil sein Vater früher im Gefängnis war. Sheehan ist keine Ausnahme, viele heutige Sinn-Féin-Minister waren in den bewaffneten Kampf involviert. Vize-Premier Martin McGuinness soll gar ein führendes IRA-Mitglied gewesen sein. Mitte der 1980er nahm Sinn Fein, der politische Arm der Provisional IRA, einen Richtungswechsel vor und setzte sich schließlich mit den Briten an einen Tisch - ein Teil der Partei fühlte sich jedoch verraten und gründete Splittergruppen, darunter die Republican Sinn Féin (RSF). Sie lehnen den bewaffneten Kampf nicht ab und stehen in Verbindung zur CIRA.

Mitglieder der RSF sehen sich als wahre Republikaner, die die ursprünglichen Ziele der IRA weiter verfolgen. Mit dem Abkommen von 1998 hätte Sinn Féin die republikanischen Ideale verraten, sagt Taylor. Auch sie bezeichnet die Lösung von „power-sharing" (Koalitionsregierung) als Kapitulation, die jahrzehntelange Kämpfe umsonst erscheinen lässt. Als Martin McGuinness der britischen Queen bei ihrem Besuch in Belfast Ende Juni die Hand reichte, war für viele oppositionelle Republikaner endgültig eine Grenze überschritten. Der einzige Weg zu dauerhaftem Frieden im Land, sagt Taylor, liege im endgültigen Abzug der Briten.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Frieden herrscht in Nordirland, gibt es nicht, vielmehr ist das eine Frage der Definition. Solange das Gebiet aber Teil Großbritanniens bleibt, wird es auch bewaffneten Widerstand republikanischer Gruppen geben. Es wird sich zeigen, ob die erstarkten Extremisten die Sicherheitslage zuspitzen und das historische Kompromiss zu Fall zu bringen können.

Paramilitärs und Parteien

Provisional IRA (PIRA): Ehemals bewaffneter Arm der Sinn Féin. Ging aus der Spaltung der IRA 1969 hervor, gab 1997 die Waffen ab.

Real IRA (RIRA): Spaltete sich 1997 von der PIRA ab. Bombenanschlag in Omagh 1998 mit 29 Toten. Seither zahlreiche, teilweise tödliche Angriffe auf britische Soldaten und Polizisten. 2012 mit RAAD fusioniert.

Continuity IRA (CIRA): Trennte sich 1986 von der PIRA, hat bis heute keinen Waffenstillstand ausgerufen. Zuletzt Angriffe auf Drogendealer und die Polizei.

Republican Action Against Drugs (RAAD): Kampf gegen Drogendealer in republikanischen Vierteln. Zusammenschluss mit RIRA 2012.

Sinn Féin: Republikanische Partei, in der Republik Irland seit 1997 im Parlament, in der Provinz Nordirland die zweitstärkste Partei.

Democratic Unionist Party (DUP):Größte protestantisch-unionistische Partei in Nordirland.

Police Service of Northern Ireland (PSNI): Reformierte Polizei, mehrheitlich protestantisch. Untersteht der britischen Regierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2012)

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