Die radikale Saat des Arabischen Frühlings

radikale Saat Arabischen Fruehlings
radikale Saat Arabischen Fruehlings(c) EPA (YAHYA ARHAB)
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Hinter dem tödlichen Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi steckt vermutlich eine salafistische Gruppe. In Libyen können rund 300 Milizen machen, was sie wollen. Ihre Spur zieht sich bis Syrien.

Der Angriff war kein Zufall, der Tag genau gewählt, als rund 100 Bewaffnete im libyschen Bengasi das US-Konsulat stürmten. „Keine Menschenseele war bis dahin zu sehen“, sagte einer der Sicherheitsleute, der beim Sturm auf das Gebäude verwundet worden war. Von Demonstranten gegen den Amateurfilm, der sich über den Propheten lustig macht, keine Spur. Das Ziel der Angreifer könnte gewesen sein, zum 11. Jahrestag der Anschläge auf das New Yorker World-Trade-Center vom 11. September 2001 eine blutige Botschaft zu senden. Ein Bekenntnis der Sympathie für den Kampf von al-Qaida gegen den „gottlosen Westen“.

Eine blutige Botschaft, aber vor allem auch ein Racheakt sei der Angriff gewesen – und zwar für die Tötung von al-Qaida-Vizechef Abu Yahya al-Libi im Juni in Pakistan. Das erklärte die Organisation laut dem auf Überwachung islamistischer Websites spezialisierten US-Unternehmen Site. Direkte Verantwortung für den Angriff und die Toten übernahm al-Qaida allerdings nicht.

Unter Verdacht stehen noch zwei Gruppen, „von denen eine unter unserer Kontrolle ist“, wie Wanis al-Sharif, der stellvertretende Innenminister, versicherte. „Eine zweite steht unter Beobachtung.“ Gemeint sind zum einen die „Gefangener-Abdul-Rahman-Brigaden“, die sich den Namen des in den USA wegen Planung eines Terroranschlags inhaftierten, blinden ägyptischen Scheichs geben. Die Gruppe rühmt sich eines Anschlags auf das Rote Kreuz, sowie eines vorangegangenen Bombenattentats auf das US-Konsulat.

Anarchie. Die zweite Organisation nennt sich Ansar al-Scharia und gilt als die größte Vereinigung islamistischer Extremisten in Libyen. Ihr Anführer, Scheich Muhammad al-Zahawi, will das islamische Recht in seiner rigidesten Form einführen. Sie hat ihren Sitz in Bengasi und in dem 350 Kilometer entfernten Derna. Die Hafenstadt wird heute von radikal-islamistischen Milizen regiert: Sie haben dort Ex-Gaddafi-Funktionäre ermordet, Radiostationen übernommen und Schönheitssalons geschlossen. Als Verdächtige kämen grundsätzlich noch eine ganze Reihe von Organisationen in Libyen in Betracht. Von den über 300 Milizen des Landes vertreten viele eine puristisch-konservative Ideologie. Ihr Gesellschafts-Idealbild orientiert sich häufig an der Anfangszeit des Islam. Deshalb werden sie Salafis (Vorgänger, Ahnen) genannt. Diese Gruppen mögen der al-Qaida nicht angeschlossen sein, hegen aber Sympathie für Mudjahedine, die für den Islam und gegen Diktaturen kämpfen. Als Unterdrücker gelten hier auch die USA.

Im Zuge des Arabischen Frühlings sind salafistische Organisationen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Unter den Diktatoren Muammar al-Gaddafi in Libyen, Ben Ali in Tunesien oder Hosni Mubarak in Ägypten waren sie verboten. Durch die demokratische Entwicklung in diesen Ländern konnten sie sich offiziell formieren und frei demonstrieren. In Ägypten wurde die salafistische Partei al-Nour sogar mit 27,8 Prozent der Stimmen zur zweitstärkste Partei gewählt.

Gewaltbereit. Als offizielle Institutionen rufen die Salafisten zwar nicht zur Gewalt auf. Bei den von ihnen organisierten und unterstützen Demonstrationen kommt es jedoch immer wieder zur Eskalation. Das zeigen die aktuellen Proteste gegen den in den USA produzierten Mohammed-Film über den Propheten Mohammed. Und in ihrem Umfeld tummeln sich gewaltbereite Gruppen, die auch finanziell unterstützt werden. Libyen spielt eine zentrale Rolle innerhalb der neuen salafistischen Bewegungen. Das nordafrikanische Land hat Modellcharakter. Dort wurde ein verhasster Diktator gewaltsam gestürzt und der Weg für eine islamische Neugestaltung eines Staates freigemacht. Bei den Wahlen im Juli erzielten radikal-islamistische Parteien zwar keinen einzigen Parlamentssitz, aber ihre Milizen können machen, was sie wollen. Sie sind die eigentlichen Herrscher des Landes. Die neue Regierung hat keine Kontrolle über sie.

Die libysche Revolution wird als Erfolgsmodell exportiert. Die Gefangener-Abdul-Rahman-Brigaden und die Ansar al-Sharia haben gute Beziehungen zu ihren salafistischen Brüdern in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten. Mahdi al-Harati, der ehemalige Vize-Militärchef der libyschen Hauptstadt Tripolis, führt im syrischen Idlib eine Brigade von rund 1000 Kämpfern. „Aus Libyen werden regelmäßig per Schiff Waffen nach Syrien geliefert“, erzählt ein Journalist, der in Beirut für eine bekannte libanesische Zeitung arbeitet und aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will. „In Syrien gibt es noch viele andere extreme salafistische Brigaden, die gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad kämpfen.“ Libyen sei ihr Vorbild, wie eine Revolution gemacht werden müsse.

Ein großes Ziel, das auch al-Qaida teilt. In einer neuen 35-minütigen Videobotschaft sagte Ayman al-Zawahiri, seit dem Tod von Osama bin Laden der Chef der Terrorgruppe: „Wir unterstützen den heiligen Krieg in Syrien, um einen islamischen Staat zu etablieren. Er ist der entscheidende Schritt in Richtung Jerusalem, bis die Siegesflagge auf dem eroberten Hügel der al-Quds-Moschee weht.“ Das neue Video zeigt, wie wichtig al-Qaida Syrien nimmt. Seit dem 11. September 2011 ist das Terrornetzwerk auf dem Rückzug. Auch unter Barack Obama haben die USA die al-Qaida weiter verfolgt. Fast ihre komplette Führung wurde gezielt getötet. Und zuletzt starb eben Abu Yahya al-Libi durch einen Drohnenangriff in Pakistan.

Imagepolitur. In Syrien hofft man endlich das beschädigte Image aufzubessern. Denn al-Qaida hat die Popularität eingebüßt, die sie unmittelbar nach den Attentaten auf die Zwillingstürme in New York hatte. Auf die darauffolgenden blutigen Bombenanschläge, bei denen sie den Tod von hunderten Zivilisten in Kauf nahmen, reagierte die muslimische Öffentlichkeit mit Abscheu. Die Volksaufstände des Arabischen Frühlings isolierten al-Qaida zunächst noch weiter. Außer wenigen Fanatikern wollte niemand mehr al-Qaida als Möglichkeit begreifen, die Welt zu verändern. Selbst in Syrien ist al-Qaida wenig willkommen. Bis zu 300, hauptsächlich aus dem Ausland stammende Kämpfer, sollen vor Ort sein. An der Front sind sie von der Freien Syrischen Armee (FSA) nicht gern gesehen. Obwohl unter deren Namen einige syrische salafistische Brigaden kämpfen. Zu den bekanntesten zählt Jubat al-Nusat, die die Verantwortung für mehrere Autobomben-attentate in Damaskus übernahm.

Waffen aus dem Irak. Unter den Radikalen toben tödliche Grabenkämpfe. Dennoch hat al-Qaida in Syrien eine Chance, ihren Ruf zu verbessern. Aus dem Irak soll sie Waffen an die Rebellen einschmuggeln. Und viel wichtiger: Die im Irak oder in Afghanistan kampferprobten al-Qaida-Extremisten vermitteln ihr Know-how an die Rebellen. Sie bringen ihnen bei, wie man Sprengsätze bastelt und fernzündet. Wenn Panzer der syrischen Armee in die Luft fliegen, ist das oft indirekt das Werk von al-Qaida. 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2012)

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