Swing States: Wo sich das Rennen um das Weiße Haus entscheidet

Swing States
Swing States(c) AP (Lynne Sladky)
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Den Ausschlag im Wahlkampf geben nicht einmal zehn Bundesstaaten. Unter den „Top Five“: die „Klassiker“ Ohio und Florida. 2000 gab Florida in einer Hängepartie den Ausschlag, 2004 Ohio.

Keine TV-Spots, keine Radiowerbung, keine Werbeflut im Postkasten, keine „Robo-Calls“ (Anrufe vom Band): In den drei bevölkerungsreichsten US-Bundesstaaten findet de facto kein Präsidentschaftswahlkampf statt. In Kalifornien, Texas und New York lassen sich die Kandidaten nur zu Spendenveranstaltungen blicken, nicht jedoch zu Wahlkundgebungen. Die eingesammelten Wahlspenden geben sie dann in jenen zehn bis zwölf Staaten aus, die die Wahl entscheiden – den sogenannten „Swing States“, die mal zu den Republikanern tendieren und mal zu den Demokraten. Der Terminus „Battleground States“ charakterisiert ihren Status noch anschaulicher: Hier wird die Wahlschlacht ausgetragen.
Es ist eine Eigentümlichkeit des US-Wahlsystems, das nach dem Prinzip funktioniert: „The winner takes it all.“ Der Gewinner vereinigt alle Wahlmännerstimmen eines Bundesstaats auf sich. Je mehr Einwohner ein Bundesstaat aufweist, desto größer ist der Anteil der Wahlmännerstimmen. Waren vor ein paar Jahrzehnten noch gut zwei Dutzend US-Staaten im Spiel, so konzentriert sich die Präsidentschaftswahl heute auf ein knappes Dutzend.

Der Nordosten, der Industriegürtel um die großen Seen im Mittleren Westen und die Westküste sind auf der Wahlkarte traditionell blau eingefärbt – es sind die Hochburgen der Demokraten. Im Süden und dem großen Rest des Landes – oft leicht herablassend als „Fly-over-Countries“ bezeichnet – dominieren die „Roten“, die Republikaner. Wobei Barack Obama vor vier Jahren einige Breschen geschlagen hat: etwa in Nevada, Colorado oder New Mexico mit ihrem hohem Latino-Anteil oder in den Südstaaten Virginia und North Carolina, die seit Jahrzehnten verlässlich republikanisch gewählt hatten. Durch den Zuzug von Fachkräften aus dem Norden in die Hightech-Zentren bekamen die beiden Südstaaten eine „liberale“ Schlagseite.

Vorteil für Obama

Die demografische Entwicklung, insbesondere durch den Anstieg der Latino-Population, begünstigt die Demokraten. Obama genügt daher schon ein Sieg in einem der großen, „klassischen“ Swing States wie Ohio oder Florida. Mitt Romney muss dagegen möglichst in beiden Staaten gewinnen, um die nötige Mehrheit von 270 Wahlmännerstimmen zu erlangen – und obendrein in den meisten der anderen „Battleground-States“.

Oder er bricht in die „blaue“ Phalanx ein, indem er etwa Michigan (seinen Geburtsstaat), Wisconsin (die Heimat seines Vizepräsidentschaftskandidaten Paul Ryan), Minnesota oder Pennsylvania auf seine Seite zieht – Staaten, in denen die geschwächten Gewerkschaften nach wie vor eine starke Rolle spielen. Ronald Reagan gelang es 1980 im Duell gegen Jimmy Carter, weiße, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter für sich zu mobilisieren – die sogenannten „Reagan-Demokraten“.
Elyria. In Donna's Diner trifft sich morgens der „Breakfast Club“, eine Stammtischrunde von Pensionisten, um die kleinen und großen Dinge zu erörtern. Am Wahlkampf kommt die Runde dieser Tage im 55.000-Einwohner-Städtchen Elyria in Ohio, dem „Battleground-State“ Nummer eins, nicht vorbei. Ohne deswegen die Freundschaft aufzukündigen, sind die Stammtischgäste polarisiert wie das gesamte Land: Speedy Amos und Jack Baird, alteingesessene Republikaner seit den 1950er-Jahren, werden es auch heuer nicht schaffen, die eingefleischten Demokraten Jim Dall und John Haynes von den Managementqualitäten ihres Kandidaten zu überzeugen.

Freitag ist Fischtag in dem kleinen Eckrestaurant am Ely Square im Herzen der Stadt, und Donna Dove kredenzt frischen, frittierten Barsch aus dem Eriesee, samt den obligaten Pommes frites. An der Wand hängt ein Poster, das die Pop-Ikonen Elvis Presley, James Dean, Humphrey Bogart und Marilyn Monroe vereint sowie Lebensweisheiten von der Art: „Genieße die kleinen Dinge des Lebens. Du wirst erkennen, dass sie die großen sind.“

Thornton Wilders Idealbild

Elyria gemahnt ein wenig an „Our Town“, Thornton Wilders Idealbild vom Small-Town-America der unmittelbaren Nachkriegszeit. Für die Stadt westlich von Cleveland waren dies damals die besten Tage. Vizebürgermeisterin Mary Siwierka, eine Demokratin, erinnert sich noch, als sie 1960 als Fünfjährige dem Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy bei einer Parade zugewinkt hat. Die Middle Road, die Hauptstraße, ist beflaggt mit Sternenbannern, das schlichte Haus des „Polish Club“ spiegelt das Selbstverständnis der Arbeiterklasse wider.

Die schwere Wirtschaftskrise ist an Elyria nicht vorübergegangen, die Innenstadt wirkt ramponiert, viele Läden sind geschlossen und die Auslagen teils mit Spanplatten vernagelt. Jetzt hofft Siwierka, dass es wieder aufwärts geht mit der Stadt und dem Staat. „Es gibt vielversprechende Ansätze, Zeichen von Hoffnung.“ Die BASF-Chemiefabrik habe 30 neue Jobs geschaffen, auch die Rollstuhlfirma stellte neue Mitarbeiter ein. Sie spricht Donna Dove aus der Seele. „Wir waren am Boden, aber wir kämpfen weiter“, sagt die Chefin von Donna's Diner, die bereits ans Zusperren gedacht hatte.

In Städten wie Elyria mit ihrem leichten Überhang für die Demokraten entscheidet sich, ob Barack Obama im Amt bleibt. Dutzende Male haben der Präsident, sein Stellvertreter Joe Biden und Ex-Präsident Bill Clinton – letztere als verbürgte Fürsprecher der Arbeiterschaft – in Ohio für eine Wiederwahl getrommelt und die Rettung der Autoindustrie reklamiert.

Doch Mitt Romney verzeichnete im „Buckeye State“ zuletzt großen Zulauf, obwohl er für den Bankrott von General Motors plädiert hatte. Neulich schaltete er TV-Spots: Chrysler wolle in China Jeeps produzieren. Der Autohersteller, seit der Insolvenz unter der Ägide von Fiat, dementierte umgehend. Mary Siwierka sagt über den republikanischen Kandidaten, was sie als offizielle Parteigängerin der Demokratin sagen muss: „Mitt Romney hat keinen Draht zu den Leuten.“ Für die Wahl ist sie vorsichtig optimistisch – so wie für den Aufschwung ihrer Heimatstadt.


Tampa. Im Büro der Emma-Booker-School hängt ein Porträt des Präsidenten Obama. Dabei war es sein Vorgänger, der den flachen Zweckbau an der Peripherie von Sarasota vor elf Jahren zu ominösem Ruhm verholfen hat. Als am elften September 2001 zwei Flugzeuge in die Twin Towers des World Trade Center in New York einschlugen, saß George W. Bush in der Grundschule an der Golfküste von Florida, um den Schülern beim Vorlesen zu lauschen. Seine festgefrorene Miene ging zu Lebzeiten in die Lehrbücher ein.

Eltern holen ihre Kinder vom Nachmittagsunterricht ab. Es ist eine übel beleumundete Gegend, notorisch für ihre Kleinkriminalität, in der hauptsächlich Schwarze wohnen – ein Ghetto im dank des subtropischen Klimas üppig wuchernden Grün des „Sunshine State“. Ein Umschlagplatz für Drogen, wie die Polizei behauptet. Farbe blättert von den blauen und gelben Holzhäusern. Shilanda Graham hat den Namen ihrer Tochter auf dem Hals tätowiert, sie lebt von Sozialhilfe und erwartet sich nicht viel vom Leben. Mitt Romney ist ihr als „reicher Schnösel“ suspekt, und darum wird sie wohl Barack Obama noch einmal eine Chance geben – sofern sie überhaupt zur Wahl geht. Washington ist weit weg, und die Tagespolitik interessiert hier kaum jemanden der Bewohner, die in Plastiksesseln im Vorgarten das Leben an sich vorbeiziehen lassen.

„Highway in Himmel oder Hölle“

Und doch ist Sarasota, das Winterdomizil des Ringling-Barnum-Zirkus, eines der umkämpftesten Territorien im ganzen Land. Es liegt am südwestlichen Ende des I-4-Korridors, der das Zentrum Floridas durchschneidet – von Daytona Beach im Osten über Orlando mit seiner Vielzahl an Vergnügungsparks und Golfplätzen bis zur Bucht von Tampa. In dem Streifen entlang des Highway I-4 leben die Wechselwähler, zugezogene Rentner aus dem schneereichen, frostigen Mittleren Westen der USA und Immigranten aus Puerto Rico, die über das Wohl und Wehe von Wahlen urteilen – in Florida wie im gesamten Land. Oder wie es die Politologin Susan MacManus formuliert: „Es ist der Highway in den Himmel – oder in die Hölle.“

In Hillsborough County um Tampa war der Immobilienmarkt von den Zwangsversteigerungen infolge der Hypothekenkrise hart getroffen. Der Wert der Häuser sei drastisch gesunken, sagt Polizist Tom Cancello. Allmählich gebe es jedoch Zeichen der Erholung. „Die Jobs kommen zurück.“ Seine Frau, eine Lehrerin, habe auch wieder Arbeit gefunden. „Wir rappeln uns auf.“

Obama hat hier vor vier Jahren souverän gewonnen, heuer steht die Wahl in Florida auf des Messers Schneide. Mitt Romney setzt dem Präsidenten schwer zu. Die jüdischen „Zugvögel“, die sich den „Sunshine State“ zum Alterssitz erkoren haben, votieren in großer Mehrheit für die Demokraten. Die kubanischen Exilanten in und um Miami, vehemente Gegner des Castro-Kommunismus, gelten dagegen als verlässliche Klientel der Republikaner. Für sie ist der Manager Romney eine Garantie für die freie Marktwirtschaft und den Kampf gegen das Regime in Havanna.
Norfolk. Am Hafen des Marinestützpunkts Norfolk, Basis der US-Kriegsflotte, begrüßt ein Schriftzug die Tagung der U-Boot-Veteranen. Hier nehmen Soldatenfamilien Abschied von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern, wenn sie in See stechen. Ganz in der Nähe, auf dem ehemaligen Kriegsschiff USS Wisconsin, hat Romney Mitte August seinen Vizepräsidentschaftskandidaten Paul Ryan vorgestellt.

In Uniform, weiße Hose und weißes Hemd, verfolgt Karl Yager die Reden beim Festbankett der U-Boot-Veteranen im Hotel. „Ryan ist mein Mann.“ An Barack Obama kann er nichts Gutes finden: „Er hat enormen Schaden angerichtet.“ Dass sich dessen Frau Michelle für die Belange von Armee-Familien einsetzt, hält der Sohn deutscher Einwanderer, der auf deutsche Produkte schwört, für Imagepolitur.

„Was springt für mich heraus?“

„Bevor ich meine Stimme abgebe, nehme ich stets meine Brieftasche zur Hand und frage mich: ,Was ist für mich in den vier Jahren herausgesprungen?‘“ Am meisten irritiert ihn die Schuldenmacherei der Regierung: „Warum sollen meine Enkel für die Sünden unserer Generation bezahlen?“ Zwei Veteranen rauchen vor dem Eingang eine Zigarette. „Ich wähle für einen Wechsel“, sagt der eine. „Obama fehlt die Erfahrung für den Job.“

2008 eroberte Obama die einst republikanische Bastion im Handstreich, diesmal liefert ihm Romney eine Schlacht bis zur letzten Minute. Im Norden und Süden, um die Städte Washington, Richmond und Norfolk mit ihren großen afroamerikanischen Gemeinden, liegt die Hausmacht des Präsidenten. In den ländlichen Gebieten laufen die Republikaner Sturm gegen das „Big Government“ in Washington.
Chapel Hill. Die Klänge der Band sind verweht, vor dem südstaatlichen Herrensitz des „Carolina Inn“ am Campus der University of North Carolina in Chapel Hill kommen Studenten zum Picknick zusammen. „Zwischen Obama und Romney besteht kein großer Unterschied“, meint Theologiestudent Nathan, der mit Freunden auf weißen Klappsesseln hockt. Im Zweifel wird der Anhänger des libertären Kandidaten Ron Paul für Romney votieren.

Daneben sitzen vier Ältersemstrige bei Käse und Rotwein auf dem Rasen. Der Präsident hat ihre Erwartungen nicht erfüllt, doch sie geben ihm eine zweite Chance. „Man darf nicht vergessen: Das Herz des Landes schlägt Mitte-rechts. Er hat ja einiges erreicht“, sagt die Ökologie-Studentin Carolina Perdue. „Und was ist die Alternative?“

14.000 Stimmen gaben vor vier Jahren den Ausschlag für Obama – eine Sensation. Heuer dürfte er jedoch im einstigen Herzland der Tabakplantagen das Nachsehen haben, obwohl die Demokraten North Carolina zum Schauplatz ihres Parteitags erkoren.


Denver. Mit Pauken und Trompeten kürte ihn die Partei 2008 beim Konvent in Denver, am Fuß der Rocky Mountains, zum Hoffnungsträger. Vier Jahre später erlitt er beim ersten TV-Duell hier seine vielleicht schmählichste Niederlage. Bei der Wahl will Obama die Scharte auswetzen, dafür muss er die Unterstützung der Latinos gewinnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

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