Der scheidende Staats- und Parteichef Hu Jintao verspricht die Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens bis 2020. Vor allem aber prangert Hu Korruption und Selbstbereicherung in den eigenen Reihen an.
Peking. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Die Anhänger von Barack Obama schlafen nach monatelangem Wahlkampf und einer aufregenden Jubelnacht noch ihren Rausch aus. Zur gleichen Zeit blättern in der Großen Halle des Volkes im Zentrum Pekings 2286 Delegierte gelangweilt in Papieren herum oder spielen mit ihren Smartphones. Geschlafen wird zwar auch, aber aus anderen Gründen. Chinas Noch-Staatsoberhaupt Hu Jintao hat noch keine Viertelstunde gesprochen, da nicken die ersten Delegierten ein.
In China hat am Donnerstag der 18. Parteitag der Kommunisten begonnen. Er ist deshalb so wichtig, weil die Delegierten eine neue Führung für Land und Partei absegnen. Die zwei Top-Posten sind mit Xi Jinping und Li Keqiang zwar gesetzt. Noch nicht bekannt ist, wer im Ständigen Ausschuss des Politbüros auf den Plätzen drei bis sieben sitzen wird. Von Jubel oder gar Aufbruchstimmung ist aber nur wenig zu spüren. Als die 40-köpfige Parteispitze feierlich ihre Plätze einnimmt, wird im Saal zwar höflich geklatscht. Doch schon nach Hus ersten Sätzen ist es mit dem Enthusiasmus vorbei.
„Sozialismus chinesischer Prägung“
Dabei hat es die Rede durchaus in sich. Zwar schwadroniert der scheidende Parteichef in KP-üblicher Manier zunächst über Marxismus-Leninismus, die Ideen Mao Zedongs, die Theorien Deng Xiaopings und den „Sozialismus chinesischer Prägung“ und preist Chinas Errungenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte. Hu geht aber in seiner insgesamt 90-minütigen Rede auch sehr kritisch mit seiner Partei um, der er die vergangenen zehn Jahre vorstand. „Die Probleme des Ungleichgewichts sind immer noch hervorstechend“, beklagt er. Die Industriestruktur sei noch nicht so, wie sie sein soll, die Landwirtschaft zu schwach. Er bemängelt auch das zunehmende Gefälle zwischen Stadt und Land. Ein Teil der Volksmassen habe es „verhältnismäßig schwer im Leben“.
Vor allem aber prangert Hu Korruption und Selbstbereicherung in den eigenen Reihen an und geht damit auf die jüngsten Skandale innerhalb der Parteispitze ein. „In einigen Bereichen verliert die Moral ihre Geltung“, beschimpft er seine Genossen. Eine kleine Zahl von Parteimitgliedern würde in den Idealen und Überzeugungen wanken, Erscheinungen von Extravaganz und Verschwendung seien gravierend.
Doch so sehr er das Problem benennt – Namen nennt er keine. Dabei hat der Skandal um den einstigen Spitzenpolitiker Bo Xilai und seine Frau Gu Kailai Anfang des Jahres die Parteispitze bis ins Mark getroffen. Gu hatte einen britischen Geschäftsmann ermordet, nachdem der damit drohte, mit dem illegalem Geschäftsgebaren des Ehepaares an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch über das angeblich gigantische Vermögen der Familie des nun ebenfalls abtretenden Premiers Wen Jiabao verliert Hu kein Wort.
Aber noch etwas ist an der Eröffnungsrede des Parteichefs bemerkenswert: Er verkündet eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens bis 2020 an und hält „den Aufbau eines modernen sozialistischen Landes, das reich, stark, demokratisch, zivilisiert und harmonisch ist, bis zum 100. Gründungstag der Kommunistischen Partei Chinas (im Jahr 2021, Anm.) “ für realistisch.
Kommunistischer Führungsanspruch
Diese Ankündigung klingt kühn – und zumindest der erste Teil ist nicht völlig unmöglich. Trotz der zuletzt schwächelnden Wachstumsraten gehen viele Ökonomen davon aus, dass China noch viele Jahre rasch wachsen wird. Was Hu mit dieser Ankündigung aber eigentlich unterstreicht: den unangefochtenen Führungsanspruch der Kommunistischen Partei – und zwar über das nächste Jahrzehnt hinaus. Genau das sagt er dann auch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2012)