Argentinien: Massenproteste gegen Kirchner

Massenproteste gegen Kirchner
Massenproteste gegen Kirchner(c) EPA (Leo La Valle)
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Buenos Aires erlebte die größte regierungskritische Kundgebung seit knapp zehn Jahren. Landesweit demonstrierte die Mittelschicht gegen die Machtfülle der Präsidentin.

Buenos Aires. Sie pfiffen. Schlugen auf Töpfe, Pfannen, Blechteller. Sie riefen „Democracia“, skandierten „Argentina, Argentina“ und sangen immer wieder die Nationalhymne. Und sie trugen Schilder, auf die sie geschrieben hatten, warum sie an diesem heißen Frühsommerabend auf die Straße gingen: „Schluss mit den Lügen!“, „Schuss mit der Unsicherheit!“, „Basta de Korrupción“, mit „K“ wie Kirchner.

Es waren tausende Transparente gegen die argentinische Regierung, die am Donnerstagabend durch das Zentrum, aber auch durch mehrere Mittelklasseviertel von Buenos Aires getragen wurden. Gleichzeitig marschierten Bürger in Vororten und in fast allen großen Städten Argentiniens wie Rosario, Córdoba, Mendoza, Tucuman, Salta, Corrientes und Santa Fé. Viele Dörfer gingen geschlossen auf die Plaza, ebenso zahlreiche Argentinier, die im Ausland leben.

Auch vor der blau-weißen Botschaft gegenüber dem Wiener Stephansdom schlugen einige Unzufriedene wacker auf Töpfe.

Mindestens 700.000 Menschen marschierten allein in Buenos Aires, gab die Stadtregierung bekannt, es war die größte regierungskritische Kundgebung in neuneinhalb Jahren Néstor und Cristina Kirchner.

Werbebudget vertausendfacht

Nur wenig mehr als ein Jahr ist es her, da gewann die 59-Jährige die Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang – mit über 54 Prozent der Stimmen und mehr als 30 Prozentpunkten Vorsprung vor dem bestplatzierten Oppositionskandidaten. Auch im Kongress verfügt sie seitdem über eine bequeme Mehrheit. Durch eine Vertausendfachung der staatlichen Werbeausgaben gewannen die Kirchners massiven Einfluss auf viele private Sender und Zeitungen, die öffentlichen Kanäle und die Nachrichtenagentur Telam fungieren als Sprachrohre der Präsidentin.

Diese Regierung verfügt über so viel Macht wie keine seit Juan Domingo Perón. Und weil sie wenige Skrupel hat, diese immer offener gegen die verbliebenen politische Gegner einzusetzen, folgten so viele Menschen dem Protestaufruf und trugen Plakate wie „Nein zum Einheitsdenken“ und „Freiheit ohne Drangsalierung“.

Feldzug gegen Grupo Clarín

Viele Bürger konnten miterleben, wie die Regierung seit Monaten massiven Druck auf die Justiz ausübt, vor allem, um den größten Medienkonzern des Landes zu zerschlagen. Seit 2009 gilt ein Mediengesetz, das Konzernen enge Grenzen setzt. Hauptadressat ist „Grupo Clarín“ , der bei Weitem größte Medienkonzern, der Zeitungen, Radio- und TV-Kanäle ebenso betreibt wie Internetprovider und Kabelnetze.

Clarín ist eindeutig zu groß für eine funktionierende Demokratie. Aber das fiel den Kirchners erst dann auf, als dessen Medien 2008 begannen, das „Herrscherpaar“ zu kritisieren. Am 7. Dezember endet eine Frist, die Clarín vor Gericht erwirken konnte. Damit der Konzern nicht eine neue Frist bekommt, erhöhte die Regierung massiv den Druck auf die Justiz, selbst der Präsident des Obersten Gerichtshofs musste sich gegen Pressionen verwehren – von privater und staatlicher Seite.

200.000 Verfahren anhängig

Aber es waren auch handfeste Beschwerden, die viele Demonstranten vorbrachten – etwa gegen die seit Jahren von der Regierung verleugnete Inflation von jährlich 25 Prozent, die Einkommen und Ersparnisse aufzehrt. Pensionisten kritisierten die Weigerung des Staates, seine Schulden bei einer Million Pensionisten zu begleichen – über 200.000 Gerichtsverfahren sind gegen den Staat anhängig. Und sie manifestierten ihre Wut über Korruption und Ineffizienz der Behörden.

Am Vortag der Demo war – bei 35 Grad – in weiten Teilen der Hauptstadt der Strom ausgefallen, mitten in der Stoßzeit versagten Ampeln und U-Bahn. Weil auch noch seit Tagen die Müllabfuhr streikte, wurde der Heimweg für viele Arbeitnehmer zur verpesteten Höllenfahrt.

Die Proteste wurden, wie schon bei einem ersten Massenauflauf am 13. September, über die sozialen Netzwerke organisiert. Die meisten Führer und Parteien der Opposition bevorzugten es, den Demonstranten via TV-Interviews zu gratulieren. Viele haben offenbar Angst, dass die Welle der Empörung auch über sie hereinbricht. Drei Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ist die Opposition gegen Cristina Kirchner tiefer gespalten denn je und findet keine Figuren mit Format.

Hohe Vertreter der Regierung haben die Proteste schon im Vorfeld als „bezahlte Aufmärsche“ abgekanzelt, im Dienste der extremen Rechten, der Ewiggestrigen und – natürlich – „bezahlt von Clarín“. Am Morgen danach sagte der einflussreiche Senator Aníbal Fernández: „Ich schaffe es nicht zu verstehen, was diese Leute wollen. Was ist bitte die Botschaft?“

Auf einen Blick

Die Regierung von Cristina Kirchner verfügt über eine bequeme Mehrheit im Parlament. Durch eine Vertausendfachung der staatlichen Werbeausgaben gewann sie massiven Einfluss auf viele private Sender und Zeitungen, die öffentlichen Kanäle fungieren als Sprachrohre der Präsidentin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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