Stoiber: "Wir leben in einer Empörungsdemokratie"

Stoiber leben einer Empoerungsdemokratie
Stoiber leben einer Empoerungsdemokratie(c) AP (CHRISTOF STACHE)
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Bayerns ehemaliger Ministerpräsident und Kanzlerkandidat spricht über verpasste Karrierechancen, die historische Leistung seines SPD-Konkurrenten Schröder, die tiefe Krise Europas und die Grenzen ehrlicher Politik.

Sie fordern Politiker in Ihrem Buch auf, mehr Klartext zu reden. Was ist die unbequemste, weil folgenschwerste Wahrheit, die Bürgern nicht zugemutet wird?

Edmund Stoiber: Unsere Bevölkerung verändert sich dramatisch. Wir werden erheblich älter, und wir werden weniger, weil zu wenige Kinder auf die Welt kommen. Das Wirtschaftswachstum von Ländern wie Österreich und Deutschland hängt von zwei Komponenten ab: der Demografie und der Innovation. Wenn die Bevölkerung schrumpft, müssen wir bei Forschung, Entwicklung und Ausbildung ständig besser werden. Und wir müssen natürlich auch länger arbeiten. Frankreich leistet sich immer noch eine 35-Stunden-Woche. Präsident Hollande dreht das Renteneintrittsalter, das Sarkozy mühsamst hinaufgesetzt hat, wieder zurück auf 60 Jahre. Das geht nicht, das wird an den Realitäten scheitern.

Kann der Wohlfahrtsstaat unter diesen Bedingungen aufrechterhalten werden?

Grundsätzlich ja. Der Wohlfahrtsstaat gewährleistet soziale Stabilität. Doch wir haben diesen Wohlfahrtsstaat auf Schulden finanziert zulasten der nächsten Generation. Diese Frage der Nachhaltigkeit bewegt die Gesellschaft noch nicht genug. Aber wir müssen auch mehr unseren Rohstoff Geist nutzen und Innovation fördern.

Innovationsfeindlichkeit halten Sie ja für eine der Spätfolgen der 68er-Bewegung.

Vor 50 Jahren war die Gesellschaft für technische Neuerungen sehr offen. Damals gab es einen riesigen Konsens in Sachen Kernenergie. In der SPD Erich Ollenhauers (Parteichef von 1952 bis 1963; Anm.) waren die besonders gläubigen Anhänger der Atomenergie zu finden. Je besser die Lebensverhältnisse wurden, desto kritischer wurden wir gegenüber moderner Technologie.

Zu kritisch?

Es ist der positive Zugang zur Technik abhandengekommen.

Wo lässt Europa Chancen liegen?

Insbesondere in der Gentechnologie, die in Europa, vor allem auch in Deutschland, aus moralischen Gründen abgelehnt wird.

Sie halten das für falsch.

Wir müssen nicht jede Entwicklung gleich toll finden, ohne die Folgen abzuschätzen. Mit steigendem Lebensstandard steigt auch die Angst vor Veränderungen. Uns muss nur klar sein: Es hat auch Folgen, wenn Forschungsdisziplinen mit großem Potenzial brachliegen und Asien und die USA Vorsprünge erzielen, die zu Innovationen führen.

Das heißt: Europa verliert den Anschluss mit dieser Haltung.

Europa muss aufpassen. Die EU hat knapp 500 Millionen Einwohner. Das entspricht sieben Prozent der Weltbevölkerung. Vor 100 Jahren waren wir 20 Prozent. Bis zum Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung von sieben auf neun Milliarden Menschen steigen. Aus dem Bevölkerungswachstum im Rest der Welt ergibt sich auch Dynamik. Die USA haben kein demografisches Problem, sie werden mehr. Es wird aber 60 Millionen weniger Europäer geben – und 1,5 Milliarden mehr Asiaten.

Sieben Prozent in Europa erwirtschaften 25 Prozent des Weltinlandsprodukts und geben die Hälfte aller weltweiten Sozialleistungen aus. Wir müssen uns anstrengen und wettbewerbsfähiger werden. Sonst können wir diesen hohen sozialen Standard nicht halten.

Aber wie kann man das System auf ein gesundes finanzielles Fundament stellen?

Durch den Fiskalpakt. Indem alle Länder in der Fiskalunion sich in ihren Verfassungen zu ausgeglichenen Haushalten verpflichten. Sie sehen das jetzt exemplarisch an Griechenland. Es ist unglaublich bitter für die griechische Bevölkerung, was die Politik ihnen abverlangt: permanente Lohnkürzungen und Steuererhöhungen. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Menschen werden zum Teil überschritten. Nur: Die Griechen haben sich einen europäischen Lebensstandard geleistet, den sie selbst nicht bezahlen konnten. Sie haben ein Drittel ihres Bruttoinlandsprodukts mit Krediten finanziert. Das ist aber nicht nur ein griechisches Thema, sondern auch ein europäisches und ein amerikanisches: Die Demokratien gelten durch den Lebensstandard, den sie mit Schulden finanzieren, als eine Gefahr für die gesamte Weltordnung. Für besonders verantwortungslos halte ich den populistischen Schuldenkurs, den Hollande eingeschlagen hat.

Er will offenbar eine verstärkte europäische Haftungs- und Transferunion, gemeinsame Euroanleihen. Was wäre die Folge, wenn sich Hollande durchsetzt?

Er setzt sich nicht durch. Das können Sie vergessen. Natürlich sind Italien, Spanien und Griechenland dafür, dass ihre Schulden vergemeinschaftet werden und andere dafür zahlen. Doch das darf niemals sein. Man kann nicht für die Fehler von anderen die Haftung übernehmen. Wir waren an der Entscheidung Italiens, sich dermaßen zu verschulden und die Wettbewerbsfähigkeit zu verspielen, nicht beteiligt. Portugals Lohnstückkosten sind in den vergangenen zehn Jahren real um 30 Prozent gestiegen. Ähnliches gilt für Italien und Spanien. Wer immer teurer produziert, ist auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Deutschland ist in der Kostenstruktur den anderen überlegen, weil es die notwendigen Reformen unternommen hat. Das war sicherlich eine historische Leistung meines großen Kontrahenten Gerhard Schröder – im Gegensatz zu seinem Drängen, Griechenland in die Eurozone aufzunehmen.

Schröder riskierte viel damit.

Die Arbeitsmarktreform Agenda 2010 hat seine SPD an den Rand des Zerreißens gebracht. Aber es war im Interesse Deutschlands. Diese Veränderung steht allen europäischen Ländern bevor. Man kann Sozialleistungen nicht permanent mit Schulden finanzieren, wenn gleichzeitig die Bevölkerung schrumpft. Das führt irgendwann zum Crash. Wir sehen den Crash jetzt in Griechenland. Wir müssen den Griechen helfen, keine Frage. Denn einen solchen Crash (haut auf den Tisch) darf es nicht auch in Italien, Spanien oder am Ende in Österreich oder Deutschland geben. Entscheidend ist eine Mentalitätsveränderung: Man darf prinzipiell nicht mehr ausgeben, als man einnimmt.

Halten Sie es nicht für einen Widerspruch, dass Deutschland den Sparmeister in Europa gibt und die Bundesregierung gleichzeitig Wahlgeschenke verteilt: das Betreuungsgeld erhöht, die Praxisgebühr abschafft.

Nein, das Betreuungsgeld belastet den Haushalt mit 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist gemessen am gesamten Sozialhaushalt eine eher kleine Größe. Man muss das im Verhältnis zu dem sehen, was die starke deutsche Wirtschaft im Kreuz hat. Die Regierung von Angela Merkel geht ran und will 2014 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Verpflichtet dazu wäre sie laut der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse erst im Jahr 2016.

Sie selbst hatten ja damals keine Freude mit der Einführung des Euro.

Ich habe in den 1990er-Jahren massiv davor gewarnt, den Euro voreilig einzuführen. Aber da bin ich mit Kurt Biedenkopf (Ministerpräsident Sachsens, Anm.) und ein paar Wissenschaftlern allein dagestanden. Der Mainstream war der Ansicht, dass die Eurogeschichte schon irgendwie gut gehen wird, auch wenn man die Italiener, die Spanier und auch noch die Griechen (haut auf den Tisch) aufnimmt. Dass das nicht gut geht, haben nur wenige gesagt. Aber jetzt haben wir den Euro. Ich kann ihn nicht mehr zurückdrehen. Wenn der Euro scheitert, sind für mich die politischen und ökonomischen Folgen nicht abschätzbar. Das Vertrauen der Märkte in Europa würde schwer erschüttert werden. Es gibt niemanden, der Ihnen seriös sagen kann, was es kostet, wenn Griechenland aussteigt. Man kann aber die Lasten, die ein nochmaliges Mitschleppen Griechenlands bedeutet, auch nicht exakt beziffern. Merkel hat jetzt eine Führungsaufgabe in Europa, die die Deutschen gar nicht wollen. Sie wollen ja gar nicht führen.

Glauben Sie, dass die deutsche Außenpolitik in Zukunft weniger zurückhaltend sein wird?

Nein. Aber wenn der Euro scheitert, werden die Südeuropäer Deutschland die Schuld geben. Deutschland hat eine Riesenverantwortung, dass Europa zusammenbleibt. Wir profitieren ja davon.

Hätten Sie sich damals beim legendären Wolfratshausener Frühstück, als Ihnen Angela Merkel 2002 den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur ließ, gedacht, dass sie jemals eine derart prägende Rolle spielen könnte?

Da wächst man natürlich hinein. Aber dass sie eine außergewöhnliche Politikerin mit Gestaltungswillen ist, war mir schon damals klar.

Ihre Karriere hat Merkel letztlich indirekt Ihnen zu verdanken? Wenn Sie 2002 die Wahl nicht so knapp mit nur 6000 Stimmen verloren hätten, wäre die Geschichte anders ausgegangen.

Meine Kandidatur 2002 hat die Union stabilisiert. Wir haben ja in allen Bundesländern zugelegt und damals den Grundstein dafür gelegt, dass die Regierung Schröder ihre Legislaturperiode nicht beenden und Angela Merkel 2005 Kanzlerin werden konnte.

Nach der Wahlniederlage bot Ihnen Schröder 2003 an, EU-Kommissionspräsident zu werden. Merkel wollte Sie zum Bundespräsidenten machen. Haben Sie diese Angebote damals letztlich als vergiftet betrachtet, weil Ihre Konkurrenten Sie damit auch aus dem Weg räumen wollten?

Nein. Welche Motive der eine oder andere auch immer haben mochte: Es war ehrenvoll, von den Sozialdemokraten Schröder und Tony Blair sowie vom Gaullisten Chirac das Amt des Kommissionspräsidenten angeboten zu bekommen. Auch das repräsentative Bundespräsidentenamt ist natürlich aller Ehren wert.

Warum haben Sie es nicht gemacht?

In beiden Fällen spielte auch die Bitte meiner Partei eine Rolle, nicht von der Fahne zu gehen. Der Vorstand war damals der Meinung, ich könne die CSU als Vorsitzender nicht allein lassen.

Haben Sie damals geglaubt, dass Sie doch noch einmal Kanzler werden können?

Als Schröder mir den Posten anbot, schrieben wir das Jahr 2003. Da waren die Wahlen 2002 erst ein Jahr alt. Die Regierung Schröder war in größter Bedrängnis. Und ich hatte ein Wahlergebnis in Bayern mit Zweidrittelmehrheit im Landtag hingelegt. Natürlich hätte ich, wenn die Regierung unmittelbar gescheitert wäre, zum Zug kommen können. Damals war man sich einig, dass meine Kanzlerkandidatur übers Jahr 2002 hinaus gilt. Aber auch nicht ewig natürlich.

Der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel hat Ihnen damals zugeraten, Kommissionspräsident zu werden. Mit welchen Argumenten?

Schüssel hat auf die wachsende Bedeutung Europas hingewiesen und die Chance, dabei mitzugestalten. Neben ihm saß der damalige Agrarkommissar Franz Fischler. Er sagte: Das stimmt so nicht, das ist mehr eine administrative Veranstaltung. Die politische Gestaltung ist sicher nicht so möglich, wie Wolfgang das hier beschreibt. Wirkliche Gestaltungsmöglichkeit hast du nur auf der nationalen Ebene.

Sie hielten sich an den Spruch von Franz Josef Strauß, kein politisches Leben rechts von der CSU zuzulassen. Haben Sie es dann für gescheit gehalten, dass Schüssel eine Koalition mit der FPÖ einging?

Ich habe ihm dazu geraten. Die ÖVP hatte unter Alois Mock eine historische Chance vertan, eine Mehrheit mit der FPÖ zu bilden. Österreich ist viel zu lang von einer Großen Koalition regiert werden. Mein Rat war, mit der FPÖ ohne Haider zu koalieren, niemals mit Haider, auch um die FPÖ in die Mitte zu führen.

Das hat Schüssel dann auch versucht.

Was dann die europäischen Sozialisten gegen Österreich losgetreten haben, würde nie wieder so gemacht werden. Ich war in Deutschland damals der Einzige, der sich an die Seite Österreichs gestellt hat. Schröder hat versucht, Österreich zu ächten.

Wann war nach der verlorenen Bundestagswahl 2002 klar, dass beim nächsten Mal Angela Merkel antreten wird?

Je mehr Merkel als Partei- und Fraktionschefin auftrat, desto mehr gewann sie auch an politischem Gewicht. Es ist der Normalfall, dass die größere Unionsschwester die Kanzlerkandidatur beansprucht.

Im Rückblick auf die Wahl 2005 stellt sich die Frage, wie ehrlich Politik sein kann. Die Union kündigte damals im Wahlkampf harte Maßnahmen an und gab so Schröder erst die Möglichkeit aufzuholen.

Wir haben 2005 einen Wahlkampf geführt, als wären wir die Regierung. Wir haben den Bürgern gesagt, dass wir Schulden abbauen müssen. Wir kündigten deshalb Belastungen für Arbeitnehmer an: eine Mehrwertsteuererhöhung, die Streichung von Nachtzuschlägen und Pendlerpauschalen.

Aber das war einmal ehrlich.

Das war ehrlich, hat aber dazu geführt, dass wir nur um Haaresbreite an der Wahlkatastrophe vorbeigeschlittert sind, obwohl die Regierung Schröder abgewirtschaftet hatte. Natürlich ist die Frage, wie weit man im Wahlkampf schon in Details gehen und eine Art Regierungserklärung abgeben soll. Aber es zeigt auch die Schwächen moderner Demokratien auf. Um Handlungsspielraum als Regierung zu haben, werden den Bürgern die Folgen von Entscheidungen nicht dargelegt. Ich bedauere, dass diese grundsätzliche Problematik nicht erörtert wird.

Warum geht das nicht?

Wir leben zunehmend in einer Empörungsdemokratie. Politik wird hauptsächlich personenbezogen betrachtet und stark skandalisiert. Es wird vor allem das Verhalten von Politikern kritisiert. Die Empörung ersetzt die Auseinandersetzung mit den Inhalten. Ich glaube anderseits, dass die Politik darauf hören muss, wie die Leute die Probleme am Arbeitsplatz, im Wirtshaus oder nach einem Fußballspiel diskutieren. Die Diskussion in der Bevölkerung ist viel kantiger und schroffer als in der Politik.


Sie schreiben in Ihrem Buch vom „Pferch der Political Correctness“: Welche öffentlichen Diskussionen werden unterbunden?

Eine verunglückte Aussage, eine zu emotionale oder auch spaltende Äußerung waren vor 20 oder 30 Jahren nach zwei Tagen vergessen.

Und heute?

Steht sie für ewige Zeiten im Netz und kann immer wieder herausgeholt werden. Es gibt keinen Radiergummi mehr.

Fehlen kontroverse Typen wie Ihr großes Vorbild Franz Josef Strauß?

In Deutschland war die Diskussion zwischen früher SPD und CDU/CSU viel aggressiver, als sie je zwischen ÖVP und SPÖ war. Das waren Schlachten zwischen Willy Brandt und Franz Josef Strauß. Die waren nicht konziliant: Sie haben sich angegiftet in Fernsehrunden. Das ist heute nicht mehr möglich, weil die Politik entideologisiert ist. Es gibt nicht mehr links und rechts. Die Parteien unterscheiden sich für den Bürger nicht mehr so fundamental.

Langweilig, oder?

Zum Teil ja. Dabei gäbe es nach wie vor große Grundsatzfragen: Wie weit geht deine Selbstverantwortung? Bist du selbst für dein Leben verantwortlich? Oder muss der Staat wirklich immer für alles da sein?

Wie sind Sie mit der öffentlichen Darstellung Ihrer Person umgegangen?

Gelassen. Weil ich immer die Wähler hinter mir hatte. Ich war als Innenminister ein Mann des Rechts. Ich war kantig. Mir hängt immer noch nach, als Generalsekretär von Strauß das blonde Fallbeil gewesen zu sein. Man hat damals geschrieben, der schafft es nicht. Und dann habe ich die Wahl 1994 gewonnen und 1998 und 2003. Da prallt alle Häme ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2012)

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